Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
ins Allerheiligste seiner tragischen Tante und findet bei seinem Eintritt den schönsten aller Körper in wundervoller Hingabe quer über das eheliche Bett gebreitet – wo noch in der vergangenen Nacht sich Körper an Körper schmiegte – wo Papier von Hand zu Hand ging ... eine Hand flattert zu ihrem Herzen hoch, ihre Brust hebt sich, und der Junge Saleem stottert: «Tante, o Tante, es tut mir Leid.»
Klagelaute wie von einer Totenfee ertönen vom Bett her. Tragödinnenarme fliegen hoch und mir entgegen. «Hai! Hai, hai! Ai -hai-hai!" Ich brauche keine weitere Einladung, sondern fliege diesen Armen entgegen, ich stürze mich zwischen sie, um auf meiner trauernden Tante zu liegen. Die Arme schließen sich um mich, engerenger, Nägel graben sich durch mein weißes Schulhemd, aber das ist mir gleichgültig! – Denn unterhalb meines Gürtels mit der S-Schnalle hat etwas angefangen sich zu regen. Tante Pia wirft sich in ihrer Verzweiflung unter mir hin und her, und ich werfe mich mit ihr hin und her, vergesse aber nicht, meine rechte Hand aus dem Gefecht herauszuhalten. Steif ragt sie über dem Getümmel. Mit der anderen Hand beginne ich sie zu streicheln, ohne zu wissen, was ich da mache. Ich bin erst zehn Jahre alt und trage immer noch kurze Hosen, aber ich weine, weil sie weint, und das Zimmer ist erfüllt von unserem Schluchzen – und auf dem Bett beginnen zwei Körper, während sie sich hin und her werfen, sich in einer Art Rhythmus zu bewegen, unnennbar undenkbar, Hüften drängen sich mir entgegen, während sie schreit: «Oh! O Gott, o Gott, oh!!!» Und vielleicht schreie auch ich, ich kann es nicht sagen; etwas gewinnt die Oberhand über den Kummer, während mein Onkel auf einem gestreiften Sofa Bleistifte entzweibricht, etwas, das immer stärker wird, während sie sich unter mir aufbäumt und windet. Und schließlich, ergriffen von einer Kraft, die stärker ist als die meine, lasse ich meine rechte Hand sinken, ich habe meinen Finger vergessen, und als er ihre Brust berührt, presst Wunde gegen Haut ...
«Autsch!» Ich schreie vor Schmerz, und meine Tante reißt sich aus der makabren Verzauberung dieser wenigen Augenblicke, stößt mich von sich und versetzt mir eine klatschende Backpfeife. Glücklicherweise ist es die linke Wange; es besteht keine Gefahr, dass mein mir verbliebenes gutes Ohr beschädigt wird. «Schurke!», schreit meine Tante. «Eine Familie von Irren und Perversen, weh mir, welche Frau hat je so arg gelitten?»
Von der Tür her kommt ein Husten. Ich richte mich auf, vor
Schmerz zitternd. Auch Pia ist auf den Beinen, ihr Haar fällt wie ein Tränenschleier herab. Mary Pereira steht in der Tür, hustend, ihre Haut purpurrot vor Verwirrung, und hält ein in braunes Papier gewickeltes Paket in der Hand.
«Sieh mal, Baba, was ich vergessen habe», bringt sie schließlich heraus. «Du bist jetzt ein großer Mann: Sieh, deine Mutter hat dir zwei Paar schöne weiße lange Hosen geschickt.»
Nachdem ich mich so unbesonnen hatte übermannen lassen, als ich versuchte, meine Tante aufzuheitern, wurde es schwierig für mich, in der Wohnung am Marine Drive zu bleiben. In den nächsten Tagen wurden regelmäßig lange, intensive Telefongespräche geführt; Hanif überredete jemanden, während Pia gestikulierte, dass vielleicht jetzt, nach fünf Wochen ... und eines Abends, als ich von der Schule zurückkam, holte meine Mutter mich mit unserem alten Rover ab, und mein erstes Exil ging zu Ende.
Weder während unserer Fahrt nach Hause noch irgendwann später gab man mir eine Erklärung für mein Exil. Ich beschloss deshalb, es mir auch nicht zur Aufgabe zu machen, danach zu fragen. Ich trug jetzt lange Hosen, ich war daher ein Mann und musste meine Sorgen wie ein Mann ertragen. Ich erklärte meiner Mutter: «Es ist nicht so schlimm mit dem Finger. Onkel Hanif hat mir beigebracht, den Stift anders zu halten, damit ich einigermaßen schreiben kann.» Sie schien sich angestrengt auf die Straße zu konzentrieren.«Es waren schöne Ferien», fügte ich höflich hinzu. «Danke schön, dass ihr mich hingeschickt habt.»
«O Kind», platzte sie heraus, «du mit deinem Gesicht wie die aufgehende Sonne, was soll ich dir sagen? Sei nett zu deinem Vater, er ist zur Zeit nicht glücklich.» Ich sagte, ich würde versuchen, nett zu sein; sie schien die Kontrolle über das Lenkrad zu verlieren, und wir fuhren gefährlich nahe an einem Bus vorbei. «Was für eine Welt», sagte sie nach einer Weile.
Weitere Kostenlose Bücher