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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Schwestern aus Baud begnügten sich mit ihrer Fähigkeit, junge und alte Narren zu verhexen. «Wozu soll diese Konferenz gut sein?», erkundigten sie sich. «Wir haben schon jetzt zu viele Liebhaber.» Und unser alchimistisches Mitglied beschäftigte sich in einem Laboratorium, das sein Vater (dem er sein Geheimnis offenbart hatte) ihm eingerichtet hatte; vom Stein der
Weisen in Anspruch genommen, hatte er wenig Zeit für uns. Wir hatten ihn an die Verlockung des Goldes verloren.
    Und auch andere Faktoren waren am Werk. Kinder, gleichgültig, wie zauberisch begabt sie sein mögen, sind nicht immun gegen ihre Eltern, und so merkte ich, je mehr die Vorurteile und Weltanschauungen der Erwachsenen Vorherrschaft über ihre Gedanken gewannen, wie Kinder aus Maharashtra Gujaratis verabscheuten und hellhäutige Nordländer drawidische «Blackies» schmähten; es gab religiöse Streitigkeiten, und der Klassengedanke drang in unsere Ratsversammlungen ein. Die reichen Kinder rümpften die Nase, weil sie sich in solch primitiver Gesellschaft befanden; Brahmanen wurden zunehmend unruhig bei der Vorstellung, dass sie auch nur ihren Gedanken gestatteten, die Gedanken Unberührbarer zu berühren, während bei den Niedriggeborenen die Zwänge der Armut und der Druck des Kommunismus offenkundig wurden ... und zu alldem kamen das Aufeinanderprallen von Persönlichkeiten und die hundert stürmischen Streitigkeiten, die in einem Parlament, das ganz aus halb erwachsenen Gören besteht, unvermeidlich sind.
    So erfüllte die Mitternachtskinder-Konferenz die Prophezeiung des Ministerpräsidenten und wurde tatsächlich zu einem Spiegel der Nation; der passiv-buchstäbliche Modus war zugange, auch wenn ich mit zunehmender Verzweiflung und schließlich mit wachsender Resignation dagegen zu Felde zog ... «Brüder, Schwestern!», sende ich mit einer geistigen Stimme, die so unkontrollierbar ist wie ihr körperliches Gegenstück, aus. «Lasst das nicht zu! Lasst nicht zu, dass die endlose Dualität von Massen-und-Klassen, Kapital-und-Arbeit, sie-und-wir uns trennt! Wir», rief ich leidenschaftlich, «müssen ein drittes Prinzip sein, wir müssen die Kraft sein, die dem Dilemma zwischen die Hörner fährt, denn nur indem wir anders sind, neu sind, können wir die Verheißung unserer Geburt erfüllen! »Ich hatte Anhänger und keinen größeren als Parvati-die-Hexe, aber ich spürte, wie sie mir entschlüpften, jeder durch sein eigenes Leben abgelenkt ... genauso, wie auch ich in Wahrheit durch meines
abgelenkt wurde. Es war, als entpuppte sich unser glorreicher Kongress als ein weiteres Kinderspielzeug und nicht mehr, als zerstörten die langen Hosen, was die Mitternacht geschaffen hatte ... «Wir müssen ein Programm verabschieden», argumentierte ich, «unseren eigenen Fünfjahresplan, warum nicht?» Aber hinter meiner angstvollen Sendung konnte ich das amüsierte Lachen meines größten Rivalen hören, und da war Shiva schon in allen unseren Köpfen und sagte verächtlich: «Nein, kleiner reicher Bengel, es gibt kein drittes Prinzip, es gibt nur Geld-und-Armut und Haben-und-Mangel und Rechts-und-Links, es gibt nur Ich-gegen-die-Welt! Die Welt ist keine Idee, reicher Junge; die Welt ist kein Ort für Träumer und ihre Träume; die Welt, kleine Rotznase, das sind die Dinge. Dinge und ihre Hersteller regieren die Welt; sieh dir Birla und Tata und all die Mächtigen an: Sie stellen Dinge her. Der Dinge wegen wird das Land regiert. Nicht wegen der Menschen. Der Dinge wegen schicken uns Amerika und Russland Güter, aber fünfhundert Millionen bleiben hungrig. Wenn du Dinge hast, dann hast du Zeit zum Träumen, wenn du keine hast, dann kämpfst du.» Die Kinder hörten fasziniert zu, wie wir stritten ... oder vielleicht auch nicht, vielleicht gelang es noch nicht einmal unserem Zwiegespräch, ihr Interesse zu fesseln. Und nun ich: «Aber Menschen sind keine Dinge; wenn wir zusammenkommen, wenn wir einander lieben, wenn wir zeigen, dass dies, nur dies, dieses Zusammensein von Menschen, diese Konferenz, diese Kinder, die miteinander durch dick und dünn gehen, der dritte Weg sein kann ...» Doch Shiva schnaubt: «Kleiner reicher Bengel, das ist doch alles bloß Geschwafel. All das Geschwätz von der Bedeutung-des-Individuums. All das Blabla von den Möglichkeiten-der-Menschheit. Heutzutage sind die Menschen bloß eine andere Art von Ding.» Und ich, Saleem, falle in mich zusammen: «Aber ... der freie Wille ... Hoffnung ... die große Seele,

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