Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
werden, war über ihre Erhebung zum Lieblingskind nicht weniger erstaunt als ich. Sie tat ihr Bestes, um in Ungnade zu fallen, aber offenbar konnte sie nichts falsch machen. Es war die Zeit, in der sie mit dem Christentum liebäugelte, was zum Teil auf den Einfluss ihrer europäischen Schulfreundinnen und zum Teil auf Mary Pereira zurückzuführen war, die ständig mit dem Rosenkranz herumspielte (weil sie wegen ihrer Furcht vor dem Beichtstuhl nicht zur Kirche gehen konnte, beglückte sie stattdessen uns mit Bibelgeschichten); zum größten Teil war es jedoch, glaube ich, ein Versuch des Äffchens, die alte bequeme Position in der Familie zurückzugewinnen, die «unter allem Hund» genannt
wurde (und da ich gerade von Hunden spreche: Die Baroness Simki war in meiner Abwesenheit eingeschläfert worden, an Promiskuität eingegangen).
Meine Schwester sprach andächtig über den süßen Jesus sanft und mild; meine Mutter lächelte vage und strich ihr übers Haar. Sie ging Kirchenlieder summend durch das Haus, meine Mutter nahm die Melodien auf und sang mit. Sie erbat sich ein Nonnengewand, das ihre liebste Krankenschwesterntracht ersetzen sollte; sie bekam es. Sie zog Kichererbsen auf einen Faden und benutzte das, Gegrüßet-seist-du-Maria murmelnd, als Rosenkranz, und meine Eltern lobten die Geschicklichkeit ihrer Hände. Es peinigte sie, dass es ihr nicht gelang, bestraft zu werden, und so verstieg sie sich zu extremer religiöser Inbrunst, sagte morgens und abends das Vaterunser auf, fastete in der Fastenzeit anstatt während des Ramzàn und offenbarte einen ungeahnten Hang zum Fanatismus, der später ihre Persönlichkeit allmählich beherrschen sollte; und trotzdem wurde sie anscheinend toleriert. Schließlich erörterte sie die Angelegenheit mit mir. «Na, Bruder», sagte sie, «sieht so aus, dass von jetzt an einfach ich das brave Kind sein muss, und du kannst dich dafür amüsieren, so viel du willst.»
Sie hatte wahrscheinlich Recht; da meine Eltern offensichtlich ihr Interesse an mir verloren hatten, hätte ich eigentlich ein größeres Maß an Freiheit erlangen sollen, doch ich war wie hypnotisiert von den Verwandlungen, die mein Leben in jeder Hinsicht mitmachte, und amüsieren konnte man sich anscheinend unter solchen Umständen kaum. Mein Körper veränderte sich: Zu früh erschien weicher Flaum auf meinem Kinn, und meine Stimme geriet außer Kontrolle und sauste das Stimmregister hinauf und herunter. Ich kam mir außerordentlich absurd vor: Meine sich streckenden Glieder machten mich tollpatschig, und ich muss eine Clownsfigur abgegeben haben, als ich aus Hemden und Hosen herauswuchs und wie ein Tölpel aus meiner Kleidung hervorsah. Ich hatte irgendwie das Gefühl, diese Kleidungsstücke, die
komisch um meine Fuß- und Handgelenke flatterten, hätten sich gegen mich verschworen, und selbst als ich mich nach innen, meinen geheimen Kindern zuwandte, fand ich Veränderung vor, und sie gefiel mir gar nicht.
Die allmähliche Auflösung der Mitternachtskinder-Konferenz – die an dem Tag, an dem die chinesische Armee über den Himalaja herunterkam, um das indische Heer zu demütigen, endgültig auseinander brach – war schon weit fortgeschritten. Wenn eine Neuigkeit sich abnutzt, folgt unvermeidlich Langeweile und dann Zwietracht. Oder (um es anders auszudrücken), wenn ein Finger verstümmelt wird und Blutfontänen herausschießen, werden alle erdenklichen Gemeinheiten möglich ... ob nun der Verlust meines Fingers die Risse in der Konferenz (aktiv-metaphorisch) bewirkt hatte oder nicht, auf jeden Fall verbreiteten sie sich. Oben in Kaschmir verfiel Narada-Markandaya den solipsistischen Träumen des wahren Narziss und befasste sich nur noch mit den erotischen Vergnügungen des ständigen Geschlechtswechsels, während Soumitra der Zeitreisende gekränkt war durch unsere Weigerung, seine Beschreibungen der Zukunft anzuhören, in der (sagte er) das Land von einem Urin trinkenden Zittergreis regiert werden würde, der sich weigerte zu sterben, und die Leute alles vergessen würden, was sie je gelernt hätten, und Pakistan sich wie eine Amöbe teilen würde und die Ministerpräsidenten beider Hälften von ihren Nachfolgern ermordet werden würden, die beide – er schwor es trotz unseres Unglaubens – den gleichen Namen tragen würden ... der gekränkte Soumitra blieb regelmäßig unseren nächtlichen Treffen fern und verschwand für lange Perioden in den spinnwebartigen Labyrinthen der Zeit. Und die
Weitere Kostenlose Bücher