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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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zwei Jahrzehnte lang geschwiegen, aber nun ist Schluss. Nun muss alles heraus.
     
    Die Kartenspielergruppe ging früh auseinander. «Der Junge muss schlafen», flüsterte Pia. «Morgen muss er wieder zur Schule gehen.» Ich fand keine Gelegenheit, mit meiner Tante allein zu sein; ich wurde auf mein Sofa gepackt und knüllte immer noch den Zettel in meiner linken Faust. Mary schlief auf dem Fußboden ... ich beschloss, einen Albtraum vorzutäuschen. (Die Anwendung von Tricks war mir durchaus nicht fremd.) Unglücklicherweise war ich jedoch so müde, dass ich einschlief, und am Ende brauchte ich nichts mehr vorzutäuschen: denn ich träumte die Ermordung meines Klassenkameraden Jimmy Kapadia.
    ... Wir spielen Fußball im Haupttreppenschacht der Schule, auf roten Fliesen, rutschend, gleitend. Ein schwarzes Kreuz ist in die blutroten Fliesen eingelassen. Mr. Crusoe steht oben an der Treppe und spricht: «Ihr dürft nicht das Geländer herunterrutschen,
Kinder, das schwarze Kreuz ist da, wo einmal ein Junge hingefallen ist.» Jimmy spielt Fußball auf dem Kreuz. «Das mit dem Kreuz ist doch ein Märchen», sagt Jimmy. «Sie erzählen einem Märchen, um einem den Spaß zu verderben.» Seine Mutter ruft ihn an. «Spiel nicht, Jimmy, dein schwaches Herz.» Die Glocke. Der Telefonhörer wird wieder eingehängt, und nun die Glocke ... Tintengetränkte Kügelchen beflecken die Luft im Klassenzimmer. Fat Perce und Glandy Keith amüsieren sich köstlich. Jimmy will einen Bleistift, gibt mir einen Rippenstoß. «He Mann, du hast doch einen Bleistift, gib mal her. Zwei Sekunden, Mann.» Ich gebe ihn her. Zagallo kommt herein. Zagallo hebt Schweigen gebietend die Hand: Seht, wie mein Haar auf seiner Handfläche wächst! Zagallo in einem spitzen Zinnsoldatenhut ... Ich brauche meinen Bleistift wieder. Ich strecke den Finger aus und stoße Jimmy an. «Sir, bitte sehen Sie mal, Sir, Jimmy ist umgefallen.» «Sir, ich habe gesehen, wie Rotznase ihn gestoßen hat!» «Rotznase hat Kapadia erschossen, Sir!» «Spiel nicht, Jimmy, dein schwaches Herz!» «Seid gefälligst ruhig», schreit Zagallo, «Schmotz aus dem Dschongel, haltet den Mond.»
    Jimmy, zusammengekrümmt auf dem Boden. «Sir, Sir, bitte, Sir, wird man ein Kreuz aufstellen?» Er borgte einen Bleistift, ich stieß, er fiel. Sein Vater ist Taxifahrer. Jetzt fährt das Taxi in die Klasse, ein Wäschebündel wird auf den Rücksitz gelegt, hinaus fährt Jimmy. Ding, eine Glocke. Jimmys Vater klappt den Taxiblinker ein. Jimmys Vater sieht mich an. «Rotznase, du übernimmst die Kosten.» «Aber, bitte, Sir, ich habe das Geld nicht, Sir.» Und Zagallo: «Wir setzen es auf deine Rechnung.» Seht mein Haar auf Zagallos Hand. Flammen schießen aus Zagallos Augen. «Fünfhondert Millionen, was ist da schon ein Totär?» Jimmy ist tot, fünfhundert Millionen leben noch. Ich fange an zu zählen: eins, zwei, drei. Zahlen marschieren über Jimmys Grab. Eine Million zwei Millionen drei Millionen vier. Wen kümmert das schon, wenn einer, irgendeiner stirbt. Einhundert Millionen und eins zwei drei. Zahlen marschieren nun durchs Klassenzimmer. Mahlend und malmend zweihundert Millionen
drei vier fünf. Fünfhundert Millionen leben noch. Und ich bin nur einer davon ...
    ... Im Dunkel der Nacht erwachte ich aus dem Traum von Jimmy Kapadias Tod, der zum Traum von der Vernichtung durch Zahlen wurde. Ich kreischte heulte schrie, hielt aber das Papier immer noch in der Faust, und eine Tür flog auf und gab den Blick auf Onkel Hanif und Tante Pia frei. Mary Pereira versuchte, mich zu trösten, aber Pia riss alles an sich, sie war ein göttlicher Wirbel aus Unterröcken und Dupatta, sie wiegte mich in ihren Armen: «Ist doch nichts passiert, mein Diamant! Lass gut sein jetzt!» Und Onkel Hanif, schläfrig: «He, Phaelwan! Ist gut jetzt, komm schon, komm mit uns. Bring den Jungen mit, Pia!» Und jetzt bin ich gut aufgehoben in Pias Armen. «Ausnahmsweise heute Abend, meine Perle, darfst du bei uns schlafen» – und da bin ich, kuschele mich zwischen Onkel und Tante, schmiege mich an die parfümierten Kurven meiner Mumani.
    Stellen Sie sich, wenn Sie können, meine plötzliche Freude vor; stellen Sie sich vor, mit welcher Geschwindigkeit der Albtraum meinen Gedanken entfloh, als ich mich in die Unterröcke meiner außergewöhnlichen Tante kuschelte! Als sie wieder herumrutschte, um bequem zu liegen, und eine goldene Melone meine Wange streichelte! Als Pias Hand die meine suchte und sie

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