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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Yaar, warum lässt sich Lal Qasim zur Zeit nicht mehr hier blicken?» Und mein Onkel wirft mir einen besorgten Blick zu: «Pst ... welcher Qasim! Ich kenne niemand, der so heißt.»
    ... Und mit dem Stimmengewirr in der Wohnung vermischten sich das Abendlicht und der Lärm vom Marine Drive: Spaziergänger mit Hunden, die bei Straßenhändlern Chambeli und Channa kauften, die Rufe von Bettlern und Bhel-Puri-Verkäufern und die Lampen, die gleich einer geschlungenen Kette um Malabar Hill herum angingen ... ich stand mit Mary Pereira auf dem Balkon und hielt mein lädiertes Ohr ihren gewisperten Gerüchten hin, die Stadt im Rücken und die eng aufeinander hockenden Gruppen beim Kartenspiel vor Augen. Und eines Tages erkannte ich unter den Kartenspielern die asketische Gestalt von Herrn Homi Catrack mit den tief in den Höhlen liegenden Augen. Er begrüßte mich mit verlegener Herzlichkeit: «Hallo, junger Freund! Geht’s dir gut? Natürlich, natürlich geht’s dir gut!»
    Mein Onkel Hanif spielte mit Hingabe Rommé, war aber von einer seltsamen fixen Idee besessen – nämlich nie ein Blatt hinzulegen, bis er eine Dreizehn-Herzen-Folge beisammenhatte. Immer Herzen, sämtliche Herzen und nichts als Herzen durften es sein. In seinem Streben nach unerreichbarer Perfektion warf mein Onkel
zur grölenden Belustigung seiner Freunde richtig gute Dreiergruppen ab und ganze Folgen von Piks, Karos, Kreuzen. Ich hörte, wie der berühmte Shehnaispieler Ustad Changez Kaan (der sein Haar färbte, sodass an heißen Abenden seine Ohren am Rand von herabrinnender schwarzer Flüssigkeit verfärbt waren) zu meinem Onkel sagte: «Komm, Mister, hör doch auf mit deinen Herzensgeschichten, und spiel einfach so wie wir anderen.» Mein Onkel sah der Versuchung ins Auge und dröhnte dann über das Getöse hinweg:«Nein, verdammt noch mal, geht zum Teufel und lasst mich spielen, wie ich will!» Er spielte Karten wie ein Schwachkopf, aber ich, der ich noch nie solche Zielstrebigkeit gesehen hatte, hätte am liebsten Beifall geklatscht.
    Ein regelmäßiger Besucher bei Hanifs legendären Kartenabenden war ein Fotograf der Times of India, der jede Menge scharfer Geschichten und unanständiger Anekdoten auf Lager hatte. Mein Onkel stellte mich ihm vor: «Das ist der Mensch, der dich auf die Titelseite gebracht hat, Saleem. Das ist Kalidas Gupta. Ein schrecklicher Fotograf, ein richtiger Gauner. Unterhalte dich nicht zu lang mit ihm, sonst schwirrt dir der Kopf von Skandalgeschichten.» Kalidas hatte eine silberne Mähne und eine Nase wie ein Adler. Ich fand ihn toll. «Kennen Sie wirklich Skandalgeschichten?», fragte ich ihn, doch er sagte nur: «Sohn, wenn ich dir welche erzählte, würden dir die Ohren glühen.» Aber er bekam nie heraus, dass der böse Geist, die éminence grise, hinter der größten Skandalgeschichte, die die Stadt je gekannt hatte, niemand anders war als Saleem Rotznase ... ich darf nicht vorgreifen. Die Affäre mit dem seltsamen Stab von Fregattenkapitän Sabarmati muss an ihrem richtigen Platz erzählt werden. Man darf Wirkungen nicht gestatten, den Ursachen vorauszugehen – auch wenn gerade das Jahr 1958 sich durch besondere Unbeständigkeit auszeichnete.
    Ich war allein auf dem Balkon. Mary Pereira war in der Küche und half Pia, Schnittchen und Käsepakoras zu machen; Hanif Aziz war in seine Suche nach den dreizehn Herzen vertieft, und nun kam
Herr Homi Catrack heraus und stellte sich neben mich. «Frische Luft schnappen», sagte er. «Ja, Sir», antwortete ich. «So», er atmete tief aus. «So, so. Das Leben meint’s gut mit dir? Bist ein prima Kerlchen. Lass mich dir die Hand schütteln.» Zehnjährige Hand wird von Filmmagnatenfaust verschluckt (die linke, die verstümmelte rechte hängt arglos an meiner Seite) ... und nun ein Schreck. Die linke Hand merkt, wie Papier hineingeschoben wird – sinistres Papier in der Linken, hineingelegt von behänder rechter Faust! Catracks Griff wird fester, seine Stimme leiser, doch zugleich zischend wie die einer Kobra; in dem Zimmer mit dem grün gestreiften Sofa unhörbar, dringen seine Worte in mein gutes Ohr: «Gib das deiner Tante. Ganz heimlich. Kannst du das? Und kein Wort darüber, sonst schicke ich dir die Polizei auf den Hals, damit sie dir die Zunge herausschneidet.» Und nun, laut und fröhlich: «Gut! Bin ich froh, dich so guter Dinge zu sehen!» Homi Catrack tätschelt mir den Kopf und begibt sich wieder zu seinen Karten.
    Aus Angst vor der Polizei habe ich

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