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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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«Schreckliche Dinge geschehen, und man weiß nicht, wie.»
    «Ich weiß», stimmte ich zu. «Ayah hat es mir erzählt.» Meine Mutter sah mich furchtsam an; dann warf sie Mary, die auf dem Rücksitz saß, funkelnde Blicke zu. «Du schwarze Frau», rief sie, «was hast du gesagt?» Ich berichtete, was mir Mary von wundersamen Ereignissen erzählt hatte, aber die grässlichen Gerüchte schienen meine Mutter zu beruhigen. «Was weißt du schon?», seufzte sie. «Du bist doch nur ein Kind.»
    Was ich weiß, Amma? Ich weiß vom Café Pionier! Als wir nach Hause fuhren, war ich plötzlich wieder von meinen frischen Gelüsten nach Rache an meiner untreuen Mutter erfüllt, eine Lust, die sich im Strahlenglanz meines Exils mehr und mehr verloren hatte, nun aber wiederkam und sich mit meinem neugeborenen Abscheu vor Homi Catrack vereinigte. Diese doppelköpfige Lust war der Dämon, der mich beherrschte und mich dazu trieb, das Schlimmste zu tun, was ich je tat ... «Alles wird gut werden», sagte meine Mutter. «Warte nur ab.» Ja, Mutter.
     
    Mir fällt auf, dass ich in diesem ganzen Kapitel nichts über die Mitternachtskinder-Konferenz gesagt habe, aber um die Wahrheit zu sagen, sie schien mir in jenen Tagen nicht sehr wichtig. Ich hatte andere Dinge im Kopf.

Fregattenkapitän Sabarmatis Stab
    Ein paar Monate später, als Mary Pereira ihr Verbrechen schließlich gestand und das Geheimnis ihrer elf Jahre währenden Verfolgung durch den Geist Joseph D’Costas offenbarte, erfuhren wir, dass sie nach ihrer Rückkehr aus dem Exil einen schlimmen Schock erlitt, als sie den Zustand sah, in den der Geist in ihrer Abwesenheit geraten war. Er hatte angefangen zu zerfallen, sodass nun Stücke von ihm fehlten: ein Ohr, mehrere Zehen an jedem Fuß, fast alle Zähne; und in seinem Bauch war ein Loch, größer als ein Ei. Über diese auseinander fallende Erscheinung bedrückt, fragte sie (als sie sicher war, dass niemand sonst in Hörweite war): «O Joe, was hast du bloß mit dir angestellt?» Er antwortete, dass die Verantwortung für ihr Verbrechen so lange fest auf seinen Schultern ruhe, bis sie gestehe, und dass sie sein System völlig durcheinander bringe. Von dem Augenblick an war es unumgänglich, dass sie gestehen würde; doch jedes Mal, wenn sie mich ansah, ließ sie sich wieder davon abhalten. Trotzdem war es nur eine Frage der Zeit.
    Unterdessen versuchte ich, ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, wie nahe der Zeitpunkt war, da man mich als Betrüger entlarven würde, mit Methwold’s Estate zurechtzukommen, wo sich ebenfalls eine Reihe von Verwandlungen ereignet hatten. Zum einen wollte mein Vater offenbar nichts mehr mit mir zu tun haben, eine Einstellung, die ich zwar verletzend, jedoch (angesichts meines verstümmelten Körpers) vollkommen verständlich fand. Zum andern hatte sich das Geschick des Messingäffchens bemerkenswert gewendet. «Meine Position in diesem Haushalt», musste ich mir eingestehen, «ist usurpiert worden.» Denn nun war es das Äffchen, das von meinem Vater ins abstrakte Heiligtum seines Büros zugelassen
wurde, das Äffchen drückte er an seinen weichen Bauch, und das Äffchen musste die Last seiner Zukunftsträume tragen. Ich hörte sogar, wie Mary Pereira dem Äffchen das kleine Liedchen vorsang, das mein Leben lang mein musikalisches Leitmotiv gewesen war: «Alles, was du sein willst», sang Mary, «kannst du sein. Du kannst sein, was immer du willst.» Selbst auf meine Mutter schien die Stimmung sich übertragen zu haben; und nun war es meine Schwester, die bei Tisch immer die größte Portion Pommes frites bekam und die Extraportion Nargisi Kofta und den erlesensten Pasanda. Während ich mir – jedes Mal, wenn mich eines der Familienmitglieder zufällig ansah – der tiefer werdenden Falte zwischen ihren Augenbrauen und einer Atmosphäre der Unsicherheit und des Misstrauens bewusst war. Aber wie hätte ich mich beschweren können? Das Äffchen hatte meine bevorzugte Stellung jahrelang ertragen. Abgesehen vielleicht von dem einen Mal, als ich in unserem Garten vom Baum fiel, nachdem sie mich geschubst hatte (und das konnte schließlich aus Versehen passiert sein), hatte sie meine Vorherrschaft mit tadelloser Würde und sogar Loyalität akzeptiert. Jetzt war ich an der Reihe; mir, der ich nun lange Hosen trug, wurde abverlangt, meine Degradierung wie ein Erwachsener hinzunehmen.«Dieses Erwachsenwerden», sagte ich mir, «ist schwieriger, als ich erwartet hätte.»
    Das Äffchen, muss gesagt

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