Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
festhielt ... nun kam ich meiner Pflicht nach. Als die Hand meiner Tante sich um die meine legte, ging Papier von Hand zu Hand. Ich merkte, wie sie stumm erstarrte; dann nahm sie mich nicht mehr wahr, obwohl ich immer näher näher näher an sie heranrückte; sie las im Dunkeln, und ihr Körper wurde immer starrer, und dann wusste ich mit einem Mal, dass man mich hereingelegt hatte, dass Catrack mein Feind war, und nur die Polizisten, die man mir angedroht hatte, hielten mich davon ab, alles meinem Onkel zu erzählen.
(In der Schule berichtete man mir am nächsten Tag von Jimmy Kapadias plötzlichem tragischen Tod zu Hause, durch Herzversagen. Ist es möglich, einen Menschen umzubringen, indem man
seinen Tod träumt? Meine Mutter behauptete das immer, und in dem Fall war Jimmy Kapadia mein erstes Mordopfer. Homi Catrack sollte das nächste sein.)
Als ich von meinem ersten Tag in der Schule zurückkam, wo ich die ungewohnte Betretenheit von Fat Perce und Glandy Keith genossen hatte («Hör mal, Yaar, wie konnten wir wissen, dass dein Finger in der ... he, Mann, wir haben Freikarten fürs Kino morgen, willst du mit?») und mich in meiner gleichermaßen unerwarteten Beliebtheit («Kein Zagallo mehr! Toll, Mann! Du hast deine Haare wirklich für ’ne gute Sache geopfert!») gesonnt hatte, war Tante Pia ausgegangen. Ich setzte mich still zu meinem Onkel Hanif, während Mary Pereira in der Küche das Essen machte. Es war eine friedliche kleine Familienszene, doch der Friede wurde durch das Krachen einer zugeschlagenen Tür abrupt zerstört. Hanif ließ seinen Bleistift fallen, als Pia mit der gleichen Vehemenz, mit der sie die Wohnungstür zugeschlagen hatte, die Wohnzimmertür aufriss. Dann dröhnte er fröhlich: «Na, Frau, was gibt’s denn für ein Drama?» ... Aber Pia ließ sich nicht entschärfen. «Kritzel weiter», sagte sie, und ihre Hand schnitt durch die Luft. «Allah, hör nicht auf wegen mir! So viel Talent, in diesem Haus kann man noch nicht mal aufs Klo gehen, ohne über deinen Genius zu stolpern. Bist du glücklich, Mann? Verdienen wir viel Geld? Ist Gott dir wohlgesonnen? »Hanif blieb immer noch fröhlich. «Komm, Pia, unser kleiner Gast ist hier. Setz dich, trink eine Tasse Tee ...» Schauspielerin Pia erstarrte in einer Haltung ungläubigen Erstaunens. «O Gott, in was für eine Familie bin ich geraten! Mein Leben liegt in Trümmern, und du bietest Tee an, deine Mutter bietet Benzin an! Wahnsinn ist das alles ... Und Onkel Hanif, nun die Stirn runzelnd: «Pia, der Junge ...? Ein Aufschrei. «Ahaaa! Der Junge – aber der Junge hat gelitten; er leidet auch jetzt; er weiß, was Verlust heißt, was es heißt, sich verloren zu fühlen! Und auch ich bin im Stich gelassen worden: Ich bin eine große Schauspielerin, doch hier sitze ich, umgeben von
Geschichten über Postboten auf Fahrrädern und Eselskarrentreibern! Was weißt du schon vom Kummer einer Frau? Bleib sitzen, bleib ruhig sitzen, lass dir von einem fetten, reichen Parsi-Filmproduzenten Almosen geben, es soll dir egal sein, dass deine Frau unechten Schmuck trägt und seit zwei Jahren keinen neuen Sari mehr bekommen hat; der Rücken einer Frau ist breit, aber, mein lieber Mann, du hast meine Tage zur Einöde gemacht! Geh, lass mich allein, ich will in Ruhe aus dem Fenster springen! Und jetzt geh’ ich ins Schlafzimmer», schloss sie, «und wenn du nichts mehr von mir hörst, dann deshalb, weil mein Herz gebrochen ist und ich tot bin.» Noch mehr Türenknallen: Es war ein phantastischer Abgang.
Onkel Hanif zerbrach geistesabwesend einen Bleistift in zwei Hälften. Er schüttelte fragend den Kopf. «Was ist bloß in sie gefahren?» Ich wusste es. Ich, von Polizisten bedrohter Geheimnisträger, wusste es und biss mir auf die Lippen. Denn da ich in der Ehekrise meines Onkels und meiner Tante wie in einer Falle gefangen saß, hatte ich meine vor kurzem geschaffene Regel verletzt und Pias Kopf betreten: Ich hatte ihren Besuch bei Homi Catrack gesehen und wusste, dass sie nun schon seit Jahren seine Geliebte war; ich hatte gehört, wie er ihr sagte, dass er ihrer Reize überdrüssig sei und dass es jemand Neues gebe; und ich, der ich ihn ohnehin schon genug hasste, weil er meine geliebte Tante verführt hatte, hasste ihn nun doppelt so leidenschaftlich, weil er ihr die Schmach antat, sie fallen zu lassen.
«Geh zu ihr», sagte mein Onkel, «vielleicht kannst du sie aufheitern. »
Der Junge Saleem geht durch wiederholt zugeschlagene Türen
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