Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Leitthemen und Nebenmotive ein, schlug auf ihre bemerkenswerten Brüste ein, dass es wirklich schmerzlich anzusehen war, presste sie nun, bearbeitete sie dann wieder mit den Fäusten ... sie zerriss ihre Gewänder und raufte sich das Haar. Es war eine Tränenekstase, und sie bewegte meine Großmutter dazu, wieder Nahrung zu sich zu nehmen. Dal und Pistazien ergossen sich in meine Großmutter, während aus meiner Tante Salzwasser floß. Nun stürzte Naseem Aziz sich auf Pia, umarmte sie, verwandelte das Solo in ein Duett, vermischte die Musik der Versöhnung mit den unerträglich schönen Weisen des Kummers. Unbeschreiblicher Applaus juckte in unseren Handflächen. Und das Beste sollte noch kommen, denn Pia, die Künstlerin, führte ihre epischen Bemühungen zu einem alles übertreffenden Ende. Sie legte den Kopf in ihrer Schwiegermutter Schoß und sagte mit einer von Unterwerfung und
Leere erfüllten Stimme: «Ma, gestatte, dass deine unwürdige Tochter endlich auf dich hört; sag mir, was ich tun soll, und ich werde es tun.» Und Ehrwürdige Mutter sprach unter Tränen: «Tochter, dein Vater Aziz und ich werden bald nach Rawalpindi gehen; im Alter wollen wir in der Nähe unserer jüngsten Tochter, unserer Emerald, leben. Auch du wirst kommen, und es wird eine Tankstelle gekauft.» Und so kam es, dass der Traum von Ehrwürdiger Mutter begann, in Erfüllung zu gehen, und Pia Aziz willigte ein, die Welt des Films der des Treibstoffs zuliebe fahren zu lassen. Mein Onkel Hanif, dachte ich, hätte das wahrscheinlich gutgeheißen.
Der Staub beeinflusste uns alle in diesen vierzig Tagen; Ahmed Sinai machte er rau und ungehobelt, sodass er sich weigerte, mit seinen Verwandten zusammenzusitzen, und den Trauernden durch Alice Pereira Botschaften übermitteln ließ, Botschaften, die er auch aus seinem Büro herausbrüllte: «Macht nicht so viel Radau! Ich arbeite mitten in diesem Tohuwabohu!» Er ließ General Zulfikar und Emerald ständig auf Kalender und Flugpläne schauen, während ihr Sohn Zafar vor dem Messingäffchen damit anzugeben begann, dass er seinen Vater dazu herumkriegen würde, eine Ehe zwischen ihnen zu arrangieren. «Du solltest dich glücklich schätzen», sagte dieser kecke Vetter zu meiner Schwester. «Mein Vater ist in Pakistan ein großer Mann.» Aber obwohl Zafar das Aussehen seines Vaters geerbt hatte, hatte das Äffchen nicht den Mumm, ihn zu bekämpfen, weil der Staub seine Lebensgeister blockiert hatte. Meine Tante Alia verbreitete unterdessen ihre uralte staubige Enttäuschung in der Luft, und meine lächerlichsten Verwandten, die Familie meines Onkels Mustapha, saßen stumpfsinnig in den Ecken und wurden wie üblich ignoriert; Mustapha Aziz’ Schnurrbart, bei seiner Ankunft stolz gewachst und an den Spitzen nach oben gezwirbelt, hing unter der deprimierenden Einwirkung des Staubes inzwischen längst herab.
Und dann, am zweiundzwanzigsten Tag der Trauerzeit, sah mein Großvater Aadam Aziz Gott.
Er war achtundsechzig in jenem Jahr – immer noch ein Jahrzehnt älter als das Jahrhundert. Aber sechzehn Jahre ohne Optimismus hatten einen hohen Preis gefordert; seine Augen waren noch immer blau, sein Rücken aber war krumm. Mit einem bestickten Käppchen auf dem Haupt und mit einem knöchellangen Chughamantel bekleidet – der ebenfalls in eine dünne Staubschicht eingehüllt war –, schlurfte er durch Buckingham Villa und knabberte abwesend an rohen Möhren, wobei dünne Spuckefäden über die grauweißen Konturen seines Kinns rannen. Und in dem Maße, wie er verfiel, wurde Ehrwürdige Mutter größer und kräftiger; sie, die einst beim Anblick von Jod mitleidig gejammert hatte, schien sich nun an seiner Schwäche zu weiden, als wäre ihre Ehe eine dieser mythischen Verbindungen, in denen Sukkuben Männern als unschuldige Jungfern erscheinen, die, nachdem sie sie ins Ehebett gelockt haben, ihre wahre, schreckliche Gestalt wieder annehmen und beginnen, ihre Seelen zu schlucken ... meine Großmutter hatte in jenen Tagen einen Schnurrbart bekommen, der fast so üppig war wie das staubig herunterhängende Haar auf der Oberlippe ihres einzigen überlebenden Sohnes. Sie saß mit gekreuzten Beinen auf dem Bett, schmierte sich eine mysteriöse Flüssigkeit auf die Oberlippe, die um die Haare herum fest wurde und die sie dann mit energischer, gewalttätiger Hand abriss. Doch das Heilmittel diente nur dazu, das Übel zu verschlimmern.
«Er ist wieder wie ein Kind geworden, wieheißtesnoch»,
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