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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Stühle, die man jahrzehntelang ohne Schutzhüllen stehen gelassen hatte; wir sahen aus wie die Geister unserer selbst. Wir waren eine Dynastie, die aus einer Nase, dem hakenförmigen Monstrum in Aadam Aziz’ Gesicht, geboren worden war, und der Staub, der zu der Zeit unseres Kummers in unsere Nasen eindrang, baute unsere Zurückhaltung ab und riss die Schranken nieder, die Familien überleben lassen. Im Staubsturm der sterbenden Paläste wurden Dinge gesagt und gesehen und getan, von denen sich keiner von uns je wieder erholte.
    Ehrwürdige Mutter fing damit an, vielleicht weil die Jahre sie so ausgefüllt hatten, bis sie dem Berg Sankara Acharya in ihrem heimatlichen Srinagar glich, sodass sie dem Staub die größte Angriffsfläche bot. Grollend kam aus ihrem gebirgigen Körper ein Lärm wie eine Lawine, der, als er sich in Worte verwandelte, zu einem heftigen Angriff auf Tante Pia, die hinterbliebene Witwe, wurde. Wir alle hatten bemerkt, dass meine Mumani sich ungewöhnlich benahm. Unausgesprochen herrschte der Eindruck, dass eine Schauspielerin von ihrem Rang der Herausforderung des Witwentums stilvoll hätte
gewachsen sein müssen; unbewusst waren wir alle begierig gewesen, ihren Schmerz zu sehen, freuten uns darauf, mitzuerleben, wie eine vorzügliche Tragödin ihren eigenen Jammer orchestrierte, erwarteten eine vierzigtägige Raga, in der alles, Bravour und Sanftheit, heulender Schmerz und leise Verzweiflung, genau den Proportionen der Kunst entsprechend vermischt würde, doch Pia blieb still, trockenen Auges und auf enttäuschende Weise gefasst. Amina Sinai und Emerald Zulfikar weinten und rauften sich die Haare in dem Versuch, Pias Talente zu wecken; doch als nichts Pia zu bewegen schien, verlor Ehrwürdige Mutter schließlich die Geduld. Der Staub kam zu ihrer Wut aus Enttäuschung hinzu und machte sie noch bitterer. «Diese Frau, wieheißtesnoch», grollte Ehrwürdige Mutter, «habe ich euch nicht über sie Bescheid gesagt? Mein Sohn, Allah, er hätte alles werden können, aber nein, wieheißtesnoch, sie muss ihn dazu bringen, sein Leben zu zerstören. Er muss von einem Dach springen, wieheißtesnoch, um sich von ihr zu befreien.»
    Es war ausgesprochen, konnte nicht zurückgenommen werden. Pia saß versteinert da; mein Inneres bebte wie Maismehlpudding. Ehrwürdige Mutter fuhr grimmig fort; sie schwor einen Eid beim Haar auf dem Kopf ihres toten Sohnes. «Bis dass diese Frau dem Andenken meines Sohnes Hochachtung erweist, wieheißtesnoch, bis sie die echten Tränen einer Ehefrau vergießt, wird kein Essen meine Lippen berühren. Es ist eine Schmach und eine Schande, wieheißtesnoch, wie sie mit Kajal um die Augen dasitzt, anstatt mit Tränen darin.» Das Haus hallte von diesem Echo ihrer alten Fehden mit Aadam Aziz wider. Und bis zum zwanzigsten Tag fürchteten wir alle, dass meine Großmutter Hungers stürbe und die vierzig Tage wieder von vorn anfangen würden. Sie lag eingestaubt auf ihrem Bett; wir warteten und fürchteten.
    Ich überwand den toten Punkt in der Beziehung zwischen Großmutter und Tante, deshalb kann ich mit Fug und Recht behaupten, zumindest ein Leben gerettet zu haben. Am zwanzigsten Tag suchte ich Pia Aziz auf, die wie eine Blinde in ihrem Zimmer im Erdgeschoss
saß; um einen Vorwand für meinen Besuch zu haben, entschuldigte ich mich unbeholfen für meine Unbesonnenheit in der Wohnung am Marine Drive. Nach einem abweisenden Schweigen sprach Pia. «Immer Melodramatik», sagte sie tonlos. «Bei seinen Familienangehörigen, bei seiner Arbeit. Er starb an seinem Hass auf das Melodramatische; deshalb wollte ich nicht weinen.» Damals verstand ich das nicht; nun bin ich mir sicher, dass Pia völlig Recht hatte. Eines Lebensunterhalts beraubt, weil er den auf billige Effekte bedachten Stil des Bombay-Kinos verächtlich ablehnte, spazierte mein Onkel Hanif über den Rand eines Dachs; Melodramatik inspirierte (und besudelte vielleicht auch) am Ende seinen Sturzflug zur Erde. Zu Ehren seines Andenkens weigerte sich Pia zu weinen ... aber die Anstrengung, dies zuzugeben, brach die Dämme ihrer Selbstbeherrschung. Staub brachte sie zum Niesen, das Niesen trieb ihr die Tränen in die Augen, und nun wollten die Tränen nicht mehr aufhören, und wir alle wurden endlich Zeugen der lang erhofften Darbietung, denn nun, da sie einmal fielen, fielen sie wie die Fontäne des Flora-Brunnens, und sie konnte ihrem eigenen Talent nicht widerstehen. Künstlerin, die sie war, formte sie die Flut, führte

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