Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
erklärte Ehrwürdige Mutter den Kindern meines Großvaters, «und Hanif hat ihm den Rest gegeben.» Sie wies uns warnend darauf hin, dass er begonnen habe, Dinge zu sehen. «Er redet zu Menschen, die nicht da sind», flüsterte sie laut, während er, geräuschvoll die Luft durch die Zähne saugend, im Zimmer umherwanderte. «Wie laut er ruft, wieheißtesnoch! Mitten in der Nacht!» Und sie ahmte ihn nach: «Ha, Tai, bist du’s?» Sie erzählte uns Kindern von dem Fährmann und dem Kolibri und der Rani von Cooch Naheen. «Der arme Mann hat zu lange gelebt, wieheißtesnoch; kein Vater sollte
erleben müssen, dass sein Sohn vor ihm stirbt.» ... Und Amina schüttelte beim Zuhören mitfühlend den Kopf, ohne zu wissen, dass Aadam Aziz ihr dies als Vermächtnis hinterlassen würde – dass auch sie in ihren letzten Tagen von Dingen heimgesucht werden würde, die kein Recht hatten zurückzukehren.
Wegen des Staubs konnten wir die Deckenventilatoren nicht benutzen; Schweiß rann über das Gesicht meines schwer geprüften Großvaters und hinterließ Schmutzstreifen auf seinen Wangen. Manchmal schnappte er sich jemanden, der gerade in seiner Nähe war, und sprach mit äußerster geistiger Klarheit: «Diese Nehrus werden nicht eher glücklich sein, bis sie sich zu Erbkönigen gemacht haben!» Oder er sabberte dem sich windenden General Zulfikar ins Gesicht: «Ach, unglückliches Pakistan! Welch schlechte Dienste seine Herrscher ihm erweisen!» Zu anderen Zeiten aber schien er sich einzubilden, er sei in einem Edelsteingeschäft, und murmelte: «... Ja, es gab Smaragde und Rubine ...» Das Äffchen flüsterte mir zu: «Stirbt der Großvater?»
Was von Aadam Aziz in mich hereintröpfelte: eine gewisse Anfälligkeit für Frauen, aber auch ihre Ursache, das Loch in seiner Mitte, das durch sein (und auch mein) Unvermögen, an Gott zu glauben oder nicht zu glauben, verursacht wurde. Und noch etwas – etwas, das ich im Alter von elf Jahren sah, bevor irgendjemand sonst es bemerkte. Mein Großvater hatte begonnen, rissig zu werden.
«Im Kopf?», fragte Padma. «Du meinst im Dachstübchen?»
Der Fährmann Tai sagte: «Das Eis wartet immer, Aadam Baba, direkt unter der Haut des Wassers. Ich sah die Risse in seinen Augen – ein zartes Flechtwerk von farblosen Linien in dem Blau. Ich sah, wie sich ein Netzwerk von Rissen unter seiner ledrigen Haut ausbreitete, und ich antwortete auf die Frage des Äffchens: «Ich glaube, ja.» Vor dem Ende der vierzigtägigen Trauerzeit hatte die Haut meines Großvaters begonnen, aufzuplatzen und sich zu schuppen und zu schälen; er konnte kaum den Mund zum Essen aufmachen wegen der Schnitte in den Mundwinkeln, und seine
Zähne fielen allmählich aus wie angesprühte Fliegen. Doch an Rissen zu sterben, das kann sich hinziehen, und es dauerte lange, bis wir etwas von den anderen Rissen erfuhren, von der Krankheit, die an seinen Knochen nagte, sodass sein Skelett in dem wettergegerbten Hautsack schließlich zu Staub zerfiel.
Padma wirkt plötzlich verstört: «Was sagst du da? Du, Herr, willst du sagen, dass du auch ... welches namenlose Wesen kann die Knochen eines Menschen auffressen? Ist es ...»
Keine Zeit für eine Unterbrechung jetzt, keine Zeit für Mitleid oder Panik, ich bin schon weiter gegangen, als ich sollte. Ich schreite ein wenig in der Zeit zurück, da ich erwähnen muss, dass auch etwas von mir in Aadam Aziz hineintröpfelte, denn am dreiundzwanzigsten Tag der Trauerzeit forderte er meine gesamte Familie auf, sich in demselben Raum, dem mit den Kristallvasen (jetzt brauchte man sie nicht mehr vor meinem Onkel zu verstecken) und den Kissen und den stillstehenden Ventilatoren, zu versammeln, in dem ich meine eigenen Visionen verkündet hatte ... Ehrwürdige Mutter hatte gesagt: «Er ist wieder wie ein Kind geworden.» Wie ein Kind verkündete mein Großvater, dass er, drei Wochen nachdem er vom Tod eines Sohnes erfahren hatte, den er lebend und wohlauf glaubte, mit eigenen Augen den Gott gesehen habe, an dessen Tod er sein ganzes Leben zu glauben versucht habe. Und wie einem Kind wurde ihm nicht geglaubt. Von einer einzigen Person abgesehen ... «Ja, hört zu», sagte mein Großvater mit einer Stimme, die nur noch ein matter Abglanz seiner alten dröhnenden Sprechweise war. «Ja, Rani, sind Sie hier? Und Abdullah? Komm, setz dich, Nadir, ich habe eine Neuigkeit für euch – wo ist Ahmed? Alia wird wollen, dass er dabei ist ... Gott, meine Kinder; Gott, den ich mein
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