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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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erwachte Ehrwürdige Mutter und merkte, dass ihr Mann weg war. Sie trat in den Hof vor ihrem Haus hinaus,
stand inmitten zischender Gänse und der blassen Schatten der Morgendämmerung, rief nach einem Diener und bekam gesagt, dass der Doktor Sahib mit der Rikscha zum Bahnhof gefahren sei. Als sie glücklich am Bahnhof ankam, war der Zug schon weg, und so trat mein Großvater, einem unbekannten Impuls folgend, seine letzte Reise an, damit er seine Geschichte dort beenden konnte, wo sie (und meine auch) begonnen hatte, in einer Stadt, an einem See gelegen und von Bergen umgeben. Das Tal lag in einer Eischale aus Eis verborgen; die Berge hatten sich herangedrängt und grollten um die Stadt am See wie wütend aufgerissene Rachen  ... Winter in Srinagar, Winter in Kaschmir. Am Freitag, dem 27. Dezember, wurde ein Mann, auf den die Beschreibung meines Großvaters passte, mit einem Chughamantel bekleidet, sabbernd, in der Nähe der Hazratbal-Moschee gesehen. Um vier Uhr fünfundvierzig des Samstagmorgens entdeckte Hadschi Muhammad Khalil Ghanai, dass die kostbarste Reliquie des Tals, das heilige Haar des Propheten, aus dem Allerheiligsten der Moschee gestohlen worden war.
    War er es? War er es nicht? Wenn er es war, warum betrat er dann nicht mit dem Stock in der Hand die Moschee, um die Gläubigen durchzuprügeln, wie er es sich angewöhnt hatte? Wenn er es nicht war, warum geschah es dann? Man munkelte, die Zentralregierung habe sich verschworen, «die kaschmirischen Moslems zu demoralisieren», indem sie deren heiliges Haar stehlen ließ, und man munkelte andererseits von pakistanischen Agents provocateurs, die angeblich die Reliquie gestohlen hatten, um Unruhe zu stiften ... haben sie es getan? Oder nicht? War dieser wunderliche Vorfall wirklich politisch motiviert, oder war es der vorletzte Versuch eines Vaters, der seinen Sohn verloren hatte, sich an Gott zu rächen? Zehn Tage lang wurde in keinem moslemischen Haushalt Essen gekocht; es gab Krawalle, und es wurden Autos verbrannt; aber mein Großvater war inzwischen über politische Händel erhaben, und es ist nicht bekannt, dass er sich einem Umzug angeschlossen hätte. Er war ein Mann mit einer einzigen Mission; und was bekannt ist, ist
nur, dass er am 1. Januar 1964 (einem Mittwoch, genau eine Woche nach seiner Abreise aus Agra) sein Gesicht dem Hügel zuwandte, der von Moslems irrigerweise Takht-e-Sulaiman, Salomons Sitz, genannt wird und auf dem ein Sendemast, aber auch die schwarze Blase des Tempels des Acharya Sankara stand. Mein Großvater beachtete nicht das Leid der Stadt und stieg hoch, während die Krankheit, die an ihm nagte, sich geduldig durch seine Knochen fraß. Er wurde nicht erkannt.
    Doktor Aadam Aziz (Heidelberg-Rückkehrer) starb, fünf Tage bevor die Regierung verkündete, dass ihre Großfahndung nach dem einzelnen Haar des Propheten erfolgreich gewesen sei. Als sich die heiligsten Heiligen des Staates versammelten, um die Echtheit des Haars zu bestätigen, konnte mein Großvater ihnen nicht mehr die Wahrheit sagen. (Falls sie sich irrten ... aber ich kann die Frage, die ich aufgeworfen habe, nicht beantworten.) Des Verbrechens bezichtigt, und später aufgrund schlechten Gesundheitszustands wieder freigelassen, wurde ein gewisser Abdul Rahim Bande; doch vielleicht hätte mein Großvater, wenn er noch gelebt hätte, ein seltsameres Licht auf die Sache werfen können ... am Mittag des 1. Januar traf Aadam Aziz vor dem Tempel des Acharya Sankara ein. Er wurde gesehen, wie er seinen Spazierstock erhob; innen im Tempel wichen Frauen, die vor dem Schiwa-Lingam Puja vollzogen, zurück – so wie einst Frauen vor dem Zorn eines anderen, von Tetrapoden besessenen Doktors zurückgewichen waren; und dann bemächtigten sich die Risse endgültig seiner, und die Beine gaben nach unter ihm, als seine Knochen zerfielen, und sein Sturz bewirkte, dass das, was von seinem Skelett noch übrig war, vollends in die Brüche ging. Identifiziert wurde er mit Hilfe der Papiere in der Tasche seines Chughamantels: einem Foto von seinem Sohn und einem halb vollendeten (und glücklicherweise richtig adressierten) Brief an seine Frau. Der Leichnam, zu zerbrechlich, um transportiert werden zu können, wurde im Tal seiner Geburt beigesetzt.
    Ich beobachte Padma; ihre Muskeln haben erregt zu zucken begonnen.
«Bedenk doch mal», sage ich, «ist das, was meinem Großvater zugestoßen ist, so seltsam? Erinnere dich doch, was für ein heiliges Theater veranstaltet wurde,

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