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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Leben lang bekämpft habe. Oskar? Ilse? – Nein, ich weiß natürlich, dass sie tot sind. Ihr denkt, ich sei alt, vielleicht närrisch, aber ich habe Gott gesehen.» Und langsam, Gedankensprüngen und Abschweifungen zum Trotz, kommt die Geschichte heraus: Um Mitternacht erwachte mein Großvater in seinem dunklen Zimmer. Es war jemand
da – jemand, der nicht seine Frau war, nicht Ehrwürdige Mutter, die in ihrem Bett schnarchte. Jemand anderer. Jemand, mit leuchtendem Staub bedeckt, erhellt vom untergehenden Mond. Und Aadam Aziz: «Ha, Tai, bist du’s?» Und Ehrwürdige Mutter murmelt im Schlaf: «Ach, schlaf, Mann, vergiss das ...» Aber der jemand, das Etwas ruft mit lauter, erschreckender (und erschreckter?) Stimme: «Jesus Christus Allmächtiger!» (Inmitten der Kristallvasen lacht mein Großvater entschuldigend, heh-heh, weil er den ketzerischen Namen erwähnt hat.) «Jesus Christus Allmächtiger!», und mein Großvater schaut und sieht, ja, in seinen Händen sind Löcher, seine Füße sind durchbohrt wie einst ... Er reibt sich die Augen, schüttelt den Kopf, sagt: «Wer? Wie war der Name? Was haben Sie gesagt?» Und die Erscheinung, erschreckend, erschreckt: «Gott! Gott!» Und nach einer Pause: «Ich hatte nicht geglaubt, dass Sie mich sehen können.»
    «Aber ich sah Ihn», sagt mein Großvater unter stillstehenden Ventilatoren.«Ja, ich kann es nicht leugnen, ich habe Ihn mit Sicherheit gesehen.» ... Und die Erscheinung: «Sie sind derjenige, dessen Sohn gestorben ist.» Und mein Großvater fragt, und es durchzuckt ihn ein Schmerz: «Warum? Warum ist das geschehen?» Darauf das Geschöpf, nur durch Staub sichtbar gemacht: «Gott hat seine Gründe, Alter. Das Leben ist nun mal so, klar?»
    Ehrwürdige Mutter schickte uns alle fort. «Der alte Mann weiß nicht mehr, was er sagt, wieheißtesnoch. So etwas, dass ein Mensch aber auch auf seine alten Tage noch zum Gotteslästerer wird!» Mary Pereira aber ging fort mit einem Gesicht, weiß wie ein Laken; Mary wusste, wen Aadam Aziz gesehen hatte – wer wegen seiner Verantwortung für ihr Verbrechen zerfallen war und Löcher in Händen und Füßen hatte, wessen Ferse von einer Schlange durchbohrt worden war, wer in einem nahe gelegenen Uhrturm gestorben und versehentlich für Gott gehalten worden war.
    Ich kann die Geschichte meines Großvaters ebenso gut hier und jetzt beenden; ich bin nun schon so weit gegangen, und später bietet
sich die Gelegenheit vielleicht nicht mehr ... irgendwo in den Tiefen der Senilität meines Großvaters, die mich unweigerlich an die Verrücktheit von Professor Schaapsteker im obersten Stock erinnerte, fasste die bittere Vorstellung Wurzeln, dass Gott durch seine lässige Haltung gegenüber Hanifs Selbstmord seine eigene Schuld an der Sache bewiesen hätte. Aadam packte General Zulfikar an seinen militärischen Rockaufschlägen und flüsterte ihm zu: «Weil ich nie geglaubt habe, deshalb hat er meinen Sohn gestohlen!» Und Zulfikar: «Nein, nein, Doktor Sahib, Sie dürfen sich nicht so quälen ...»Aber Aadam Aziz vergaß seine Vision nie, wenn sich auch die einzelnen Züge der speziellen Gottheit, die er gesehen hatte, in seinem Gedächtnis verwischten und nur ein leidenschaftliches, geiferndes Verlangen nach Rache (eine Begierde, die uns ebenfalls beiden gemeinsam ist) zurückblieb ... am Ende der vierzigtägigen Trauerzeit weigerte er sich, nach Pakistan zu gehen (wie Ehrwürdige Mutter geplant hatte), weil dies ein eigens für Gott geschaffenes Land sei, und in seinen letzten Lebensjahren brachte er oft Schande über sich, indem er mit seinem Stock, den er als alter Mann brauchte, in Moscheen und Tempel stolperte, Verwünschungen ausstieß und nach jedem Betenden oder heiligen Mann schlug, der sich in Reichweite befand. In Agra wurde er um des Mannes willen, der er einmal gewesen war, toleriert; die Alten im Paan-Geschäft in der Cornwallis Road spielten Triff-den-Spucknapf und schwelgten mitfühlend in Erinnerungen an die Vergangenheit des Doktor Sahib. Ehrwürdige Mutter musste ihm schon allein darum nachgeben, weil die Bilderstürmerei seines Greisenalters in einem Land, in dem niemand ihn kannte, einen Skandal verursacht hätte.
    Hinter seiner Närrischkeit und seinen Wutanfällen breiteten die Risse sich weiter aus, die Krankheit nagte stetig an seinen Knochen, während Hass alles Übrige von ihm wegfraß. Er starb jedoch erst 1964. Das kam so: Am Mittwoch, dem 25. Dezember 1963 – am Weihnachtstag! –,

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