Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
halsbrecherischer Geschwindigkeit voraneile, sind Irrtümer und Übertreibungen und schrille Änderungen im Tonfall möglich; ich renne mit den Rissen um die Wette, doch weiß ich wohl, dass bereits Irrtümer vorgekommen sind und dass mit dem sich beschleunigenden Verfall (ich komme mit dem Schreiben kaum noch mit) die Gefahr der Unzuverlässigkeit zunimmt ... in dieser Lage lerne ich, Padmas Muskeln als Richtschnur zu benutzen. Wenn sie gelangweilt ist, entdecke ich in ihren Muskelsträngen ein Kräuseln, das auf Desinteresse verweist; wenn sie nicht überzeugt ist, geht in ihrer Wange ein nervöses Zucken los. Das Tanzen ihrer Muskulatur trägt dazu bei, mich in der richtigen Bahn zu halten, denn in der Autobiographie wie in jeder Literatur ist das, was wirklich geschah, weniger wichtig als das, wovon der Autor seinen Leser überzeugen kann ... Padma gibt mir, nachdem sie die Geschichte von Cyrus-dem-Großen akzeptiert hat, den Mut, rasant weiterzumachen, von der schlimmsten Zeit meines elfjährigen Lebens zu erzählen (es soll, sollte noch schlimmer kommen) – von dem August-und-September, da die Enthüllungen schneller hervorsprudelten als Blut.
Die nickenden Schilder waren kaum abgenommen, als die Abrisskommandos der Narlikar-Frauen heranrückten; Buckingham Villa wurde vom stürmischen Staub der sterbenden Paläste William Methwolds eingehüllt. Durch eine Staubwolke den Blicken von der
Warden Road her entzogen, verfolgen uns doch noch die Telefone; und das Telefon informierte uns mit der zitternden Stimme meiner Tante Pia vom Selbstmord meines geliebten Onkels Hanif. Des Einkommens, das er von Homi Catrack bezogen hatte, beraubt, hatte mein Onkel seine dröhnende Stimme und seine Versessenheit auf Herzen und Wirklichkeit auf das Dach seines Wohnblocks am Marine Drive mitgenommen und war in die abendliche Meeresbrise hinausgetreten. Im Fallen erschreckte er die Bettler so sehr, dass sie ihre Blindheit vorzutäuschen vergaßen und schreiend wegliefen ... im Leben wie im Tod setzte Hanif Aziz sich für die Sache der Wahrheit ein und schlug Blendwerk in die Flucht. Er war fast vierunddreißig Jahre alt. Mord bringt Tod hervor; indem ich Homi Catrack tötete, hatte ich auch meinen Onkel getötet. Es war meine Schuld, und das Sterben war noch nicht vorüber.
Die Familie versammelte sich in Buckingham Villa: Aus Agra kamen Aadam Aziz und Ehrwürdige Mutter, aus Delhi mein Onkel Mustapha, der Beamte, der die Kunst der Übereinstimmung mit seinen Vorgesetzten so weit verfeinert hatte, dass sie aufgehört hatten, ihn zu hören, weshalb er nie befördert wurde, und seine halb iranische Frau Sonia und ihre Kinder, die so gründlich geprügelt worden waren, dass sie jegliche Identität verloren hatten und ich mich noch nicht einmal daran erinnern kann, wie viele es überhaupt waren, und aus Pakistan die bittere Alia und sogar General Zulfikar und meine Tante Emerald, die siebenundzwanzig Gepäckstücke und zwei Diener mitbrachten und nie aufhörten, auf die Uhr zu sehen und sich nach dem Datum zu erkundigen. Ihr Sohn Zafar kam auch. Und um den Kreis zu schließen, brachte meine Mutter Pia dazu, in unserem Haus zu bleiben, «wenigstens für die vierzig Trauertage, meine Schwester».
Vierzig Tage lang wurden wir vom Staub belagert; Staub kroch unter den nassen Handtüchern durch, die wir überall um die Fenster geklemmt hatten, Staub folgte verschlagen jedem Trauergast ins Haus herein, Staub drang sogar durch die Wände und hing wie
eine formlose Geistererscheinung in der Luft, Staub dämpfte das herkömmliche Wehklagen und auch die tödlich hinterhältigen Attacken der trauernden Verwandten. Die Überreste von Methwold’s Estate ließen sich auf meiner Großmutter nieder und reizten sie zu großem Zorn, sie reizten die zusammengekniffenen Nasenlöcher des Kasperlegesichts von General Zulfikar und zwangen ihn, aufs Kinn zu niesen. Manchmal sah es in dem Geisterdunst des Staubes so aus, als könnten wir die Formen der Vergangenheit ausmachen: die Luftspiegelung von Lila Sabarmatis zu Staub verfallenem Pianola oder die Gefängnisstäbe vor dem Fenster von Toxy Catracks Zelle; Dubash’ nackte kleine Statue tanzte in Staubform durch unsere Gemächer, und Sonny Ibrahims Stierkampf-Plakate besuchten uns als Wolken. Die Narlikar-Frauen waren weggezogen, während Bulldozer ihr Werk verrichteten; wir waren allein in dem Staubsturm, der uns allen das Aussehen von vernachlässigtem Mobiliar gab, als wären wir Tische und
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