Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
gewichen waren und in dem sich nun äußerste Verzweiflung malte? Was saß zusammengekauert in einer Ecke des Zimmers und erfüllte die Luft mit Schwefelgestank? Was, geformt wie ein Mensch, hatte keine Finger und Zehen; wessen Gesicht schien aufzuspringen wie die heißen Quellen von Neuseeland (die ich im Wunderbuch der Wunder gesehen hatte)? ... Keine Zeit, das zu erklären, denn Mary Pereira hat zu reden begonnen, plappert ein Geheimnis aus, das über elf Jahre verborgen war, reißt uns alle aus der Traumwelt, die sie erfand, als sie die Namensschildchen vertauschte, zwingt uns die entsetzliche Wahrheit auf. Und die ganze Zeit hielt sie mich fest; wie eine Mutter, die ihr Kind beschützt, schirmte sie mich vor meiner Familie ab. (Die gerade erfuhr ... genau wie ich ... dass sie nicht ...)
... Es war kurz nach Mitternacht, und auf den Straßen gab es Feuerwerk und Menschenmassen, das vielköpfige Ungeheuer röhrte, ich tat es für meinen Joseph, Sahib, aber bitte schicken Sie mich nicht ins Gefängnis, sehen Sie, der Junge ist ein braver Junge, Sahib, ich bin eine arme Frau, Sahib, ein einziger Fehler, ein einziger Augenblick in so vielen Jahren, nicht ins Gefängnis, Sahib, ich werde gehen, elf Jahre hab’ ich gegeben, aber jetzt gehe ich, Sahib, bloß, das ist ein guter braver Junge, Sahib, Sie dürfen ihn nicht
wegschicken, Sahib, nach elf Jahren ist er Ihr Sohn ... Oh, du Kind mit dem Gesicht wie die aufgehende Sonne, o Saleem, meine Scheibe-vom-Mond, du musst wissen, dass dein Vater Winkie war, und deine Mutter ist auch tot ...
Mary Pereira lief aus dem Zimmer.
Ahmed Sinai sagte mit einer Stimme, so weit weg wie die eines Vogels: «Das dort in der Ecke ist mein alter Diener Musa, der mich einmal zu berauben versuchte.»
(Kann eine Erzählung so viel in so kurzer Zeit aushalten? Ich blicke zu Padma hinüber; sie sieht betäubt aus, wie ein Fisch.)
Es war einmal ein Diener, der meinen Vater beraubte; der schwor, er sei unschuldig; der den Fluch der Lepra auf sich herabbeschwor, wenn er sich als Lügner erweisen sollte, und dem die Lüge nachgewiesen wurde. Mit Schimpf und Schande bedeckt, hatte er das Haus verlassen; aber ich sagte Ihnen damals, er sei eine Zeitbombe, und er war zurückgekehrt und war explodiert. Musa war tatsächlich von Lepra befallen worden und war über das Schweigen der Jahre hinweg zurückgekommen, um meinen Vater um Vergebung zu bitten, damit er von seinem selbst auferlegten Fluch erlöst werden konnte.
... Jemand wurde Gott genannt, der nicht Gott war; ein anderer wurde für einen Geist gehalten und war kein Geist; und ein Dritter entdeckte, dass er, obwohl er Saleem Sinai hieß, nicht seiner Eltern Sohn war ...
«Ich vergebe dir», sagte Ahmed Sinai zu dem Aussätzigen. Nach jenem Tag war er von einer seiner Obsessionen geheilt; er versuchte nie wieder, seinen eigenen (und vollkommen imaginären) Familienfluch zu ergründen.
«Ich konnte es nicht anders erzählen», sage ich zu Padma. «Sonst tut es zu weh; ich musste es einfach heraustrompeten, verrückt, wie es klingt, einfach so.»
«O Herr», Padma plärrt hilflos, «o Herr, Herr!»
«Nun komm schon», sage ich. «Es ist eine alte Geschichte.»
Aber die Tränen gelten nicht mir; für den Augenblick hat sie alles über was-an-den-Knochen-unter-der-Haut-kaut vergessen; sie weint über Mary Pereira, die sie, wie ich schon sagte, immer mehr ins Herz geschlossen hat.
«Was ist aus ihr geworden?», sagt sie mit roten Augen. «Aus dieser Mary?»
Ich werde von irrationalem Zorn ergriffen. Ich brülle: «Frag sie doch selbst!»
Frag sie, wie sie nach Hause in die Stadt Panadji in Goa fuhr, wie sie ihrer uralten Mutter die Geschichte ihrer Schande erzählte! Frag, wie die Schmach ihre Mutter zur Raserei trieb (und das war so abwegig nicht; es war eine Zeit, in der alte Leute den Verstand verlieren konnten)! Frag: Gingen Tochter und alte Mutter auf die Straßen, um Vergebung zu suchen? War es nicht genau die Zeit, in der – was nur alle zehn Jahre einmal geschieht – der mumifizierte Leichnam des heiligen Franz Xaver (eine ebenso heilige Reliquie wie das Haar des Propheten) aus seiner Gruft in der Kathedrale von Bom Jesus geholt und durch die Stadt getragen wurde? Ertappten Mary und die heftig erregte Frau Pereira sich dabei, wie sie sich an den Katafalk herandrängten; war die alte Dame außer sich vor Kummer über das Verbrechen ihrer Tochter? Kletterte die alte Frau Pereira, «Hai! Ai-hai! Ai-hai-hai!»
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