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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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bloß weil jemand ein Haar gestohlen hat, denn an dieser Geschichte ist jedes Wort wahr; verglichen damit, ist doch der Tod eines alten Mannes sicher etwas vollkommen Normales.» Padma entspannt sich, ihre Muskeln geben mir das Zeichen weiterzumachen. Denn zu lange habe ich bei Aadam Aziz verweilt; vielleicht habe ich Angst vor dem, was als Nächstes erzählt werden muss; aber die Enthüllung wird nicht vorenthalten werden.
    Eine letzte Tatsache: Nach dem Tod meines Großvaters erkrankte Ministerpräsident Nehru und wurde nie wieder gesund. Der tödlichen Krankheit fiel er schließlich am 27. Mai 1964 zum Opfer.
     
    Wenn ich nicht ein Held hätte sein wollen, hätte Herr Zagallo mir nie die Haare ausgerissen. Wenn mein Haar unversehrt geblieben wäre, hätten Glandy Keith und Fat Perce mich nicht gehänselt, hätte Masha Miovic mich nicht angestachelt, hätte ich nicht meinen Finger eingebüßt. Und aus meinem Finger floß Blut, das weder Alpha noch Omega war und mich ins Exil schickte; und im Exil wurde ich von Rachegelüsten erfüllt, die zur Ermordung Homi Catracks führten; und wäre Homi nicht gestorben, wäre mein Onkel vielleicht nicht von einem Dach in die Meeresbrise hinausspaziert, und dann wäre mein Großvater nicht nach Kaschmir gefahren und an der Anstrengung, den Berg Sankara Acharya zu ersteigen, gestorben. Und mein Großvater war der Begründer meiner Familie, und mein Schicksal war durch meinen Geburtstag mit dem der Nation verbunden, und der Vater der Nation war Nehru. Nehrus Tod: Kann ich um den Schluss herumkommen, dass ich auch daran schuld war?
     
    Aber nun befinden wir uns wieder im Jahre 1958, denn am siebenunddreißigsten Tag der Trauerzeit kam die Wahrheit, die sich über
elf Jahre hinweg an Mary Pereira – und somit auch an mich – herangeschlichen hatte, endlich ans Licht. Die Wahrheit in Gestalt eines uralten Mannes, dessen Höllengestank selbst in meine verstopfte Nase drang und dem Finger und Zehen fehlten und dessen Körper mit Geschwüren und Löchern übersät war, kam unser zweigeschossiges Hügelchen herauf und erschien durch die Staubwolke; und es erblickte ihn Mary Pereira, die gerade die Bambusjalousien auf der Veranda sauber machte.
    So war nun Marys Albtraum wahr geworden, hier war nun, sichtbar durch die Staubdecke, der Geist Joe D’Costas und ging auf das Büro von Ahmed Sinai im Erdgeschoss zu! Als wäre es nicht genug gewesen, dass er sich Aadam Aziz gezeigt hatte ... «Arré, Joseph», schrie Mary und ließ den Staubwedel fallen, «geh du bloß weg! Komm bloß nicht hierher! Lass die Sahibs mit deinen Sorgen in Ruhe! O Gott, Joseph, geh, geh, du bringst mich noch um!» Doch der Geist ging weiter, die Auffahrt entlang.
    Mary Pereira lässt die Bambusjalousien im Stich, lässt sie schief hängen, hastet ins Innere des Hauses, um sich meiner Mutter zu Füßen zu werfen – die kleinen fetten Hände flehend gefaltet: «Begum Sahiba! Begum Sahiba! Vergeben Sie mir!» Und meine Mutter, erstaunt: «Was ist denn, Mary? Welche Laus ist dir denn über die Leber gekrochen?» Doch Mary ist Zwiegesprächen nicht mehr zugänglich, sie weint hemmungslos und schreit: «O Gott, meine Stunde hat geschlagen, meine liebste Madam, lassen Sie mich bitte in Frieden ziehen, stecken Sie mich nicht ins Gefängnis!» Und weiter:«Elf Jahre, meine Madam, sagen Sie, habe ich Sie nicht alle geliebt? O Madam, und dieses Kind mit dem Gesicht wie der Mond; aber jetzt bin ich erledigt, ich bin eine schlechte Frau, ich werde in der Hölle brennen! Funtoosh !» , heult Mary, und noch einmal: «Es ist zu Ende, funtoosh !»
    Noch immer erriet ich nicht, was kam, selbst dann nicht, als Mary sich auf mich warf (ich war jetzt größer als sie, und ihre Tränen nässten meinen Hals): «O Baba, Baba, heute musst du etwas
erfahren, etwas, was ich getan habe, aber komm jetzt ...», und die kleine Frau richtete sich mit ungeheurer Würde auf, «... ich werde es euch allen sagen, ehe dieser Joseph es tut. Begum, Kinder, all ihr anderen hohen Herren und Damen, kommen Sie nun ins Büro des Sahibs, und ich werde reden.»
    Öffentliche Ankündigungen haben in meinem Leben Akzente gesetzt. Amina in einer Gasse in Delhi und Mary in einem Büro ohne Sonne ... ich ging mit Mary Pereira, die meine Hand nicht loslassen wollte, nach unten, und meine ganze Familie marschierte verdutzt hinter uns her.
    Was war im Zimmer bei Ahmed Sinai? Was hatte meinem Vater einen Gesichtsausdruck verliehen, aus dem Dschinns und Geld

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