Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Mutter gewöhnlich gelang, das Thema zu wechseln; sie war nicht versessen
auf Onkel Puffs Idee, einerlei wie kostspielig die Gebisse waren ... an jenem ersten Abend wie so oft danach sang Jamila für Major Alauddin Latif. Ihre Stimme drang durch das Fenster und ließ den Verkehr verstummen, die Vögel hörten auf zu zwitschern, und in der Hamburgerbude auf der anderen Straßenseite wurde das Radio abgestellt, die Leute auf der Straße blieben stehen, und die Stimme meiner Schwester umflutete sie ... als sie aufhörte, bemerkten wir, dass Onkel Puffs weinte.
«Ein Juwel», sagte er und trompetete in sein Taschentuch. «Mein Herr, gnädige Frau, Ihre Tochter ist ein Juwel. Ich bin absolut beschämt. Verflixt beschämt. Sie hat mir bewiesen, dass eine goldene Stimme sogar goldenen Zähnen vorzuziehen ist.»
Und als der Ruhm von Jamila der Sängerin den Punkt erreicht hatte, an dem sie sich einem öffentlichen Auftritt nicht länger entziehen konnte, war es Onkel Puffs, der das Gerücht in die Welt setzte, sie habe einen Autounfall gehabt, durch den sie furchtbar entstellt worden sei; Major (a. D.) Latif war’s, der ihren berühmten, alles verhüllenden weißen Seidentschador entwarf, den reich mit Goldbrokat und religiösen Schriftzeichen bestickten Vorhang oder Schleier, der sie züchtig verbarg, wenn sie in der Öffentlichkeit auftrat. Der Tschador von Jamila der Sängerin wurde von zwei nie ermüdenden muskulösen Gestalten hochgehalten, die ebenfalls von Kopf bis Fuß (aber schlichter) verschleiert waren – die offizielle Version lautete, dass es ihre weibliche Leibwache sei, doch war ihr Geschlecht durch ihre Burqas hindurch unmöglich zu bestimmen; und genau in die Mitte hatte der Major ein Loch geschnitten. Durchmesser: sechs Zentimeter. Umrandung: mit feinstem Goldfaden bestickt. So wurde die Geschichte unserer Familie wieder einmal zum Schicksal einer Nation, denn wenn Jamila sang, die Lippen vor die brokatene Öffnung gepresst, verliebte sich ganz Pakistan in ein fünfzehnjähriges Mädchen, das es immer nur durch ein golden-weißes Laken mit einem Loch erspähte.
Das Gerücht von dem Unfall besiegelte ihre Beliebtheit; ihre
Konzerte brachten das Bambino-Theater in Karatschi schier zum Bersten und füllten die Shalimar-Anlage in Lahore; ihre Schallplatten führten regelmäßig die Hitlisten an. Und als sie öffentliches Eigentum,«Engel Pakistans», «Stimme der Nation», «Bülbül-e-Din», das ist «Nachtigall des Glaubens», wurde und eintausendundeinen ernst gemeinte Heiratsanträge pro Woche bekam, als sie die Lieblingstochter des ganzen Landes wurde und in eine Existenz hineinwuchs, die ihren Platz innerhalb unserer Familie unter sich zu begraben drohte, fiel sie dem Zwillingsvirus des Ruhms zum Opfer. Der eine machte sie zum Opfer ihres eigenen Bildes in der Öffentlichkeit, denn das Gerücht von dem Unfall zwang sie, ständig eine golden-weiße Burqa zu tragen – sogar in der Schule meiner Tante Alia, die sie weiterhin besuchte –, während der andere Virus sie der Überbetonung und Vereinfachung des Ichs unterwarf, die die unvermeidlichen Begleiterscheinungen des Startums sind, sodass die blinde und blindmachende Hingabe und der bedingungslose Nationalismus, die bereits zuvor in ihr zum Vorschein gekommen waren, ihre Persönlichkeit nun fast ausschließlich zu dominieren begannen. Die Berühmtheit machte sie zur Gefangenen in einem vergoldeten Zelt, und da sie die neue Tochter der Nation war, begann ihr Charakter mehr den auffallendsten Aspekten der nationalen Persönlichkeit als der Kindheitswelt ihrer Äffchenjahre zu verdanken.
Die Stimme von Jamila der Sängerin war ständig in der Voice-of-Pakistan zu hören, sodass sie in den Dörfern des Ost- und des Westflügels allmählich wie ein übernatürliches Wesen wirkte, das niemals müde wurde, ein Engel, der Tag und Nacht für sein Volk sang, während Ahmed Sinai, dessen letzte noch verbleibende Bedenken gegen die Laufbahn seiner Tochter dank ihrer enormen Einkünfte mehr als bloß beschwichtigt waren (obwohl er aus Delhi stammte, war er im Grunde seines Herzens mittlerweile ein richtiger Bombayer Moslem, dem Geldangelegenheiten wichtiger als fast alles andere waren), gern zu meiner Schwester sagte: «Siehst du, Tochter;
Anständigkeit, Reinheit, Kunst und ein guter Geschäftssinn können ein und dasselbe sein; dein alter Vater war klug genug, das herauszufinden.» Jamila lächelte sanft und stimmte zu ... sie entwickelte sich von
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