Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
meine Schwester verzehrte sich – trotz ihres Patriotismus – stets nach gesäuertem Brot. Und was war in ganz Karatschi die einzige Quelle für gute Hefelaibe? Kein Bäcker; das beste Brot der Stadt wurde jeden Donnerstagmorgen durch eine Luke in einer ansonsten durchgehenden Mauer von den Schwestern des verborgenen Ordens von Santa Ignatia herausgereicht. Jede Woche brachte ich ihr auf meiner Lambretta die warmen frischen Laibe von den Nonnen. Ich reihte mich geduldig in lange Schlangen ein, ließ mich nicht abhalten von dem allzu pikanten, scharfen Geruch, der aus den engen, von Kot verdreckten Gassen um das Nonnenkloster stieg, stellte alle anderen Dinge zurück und holte das Brot. Kritik war meinem Herzen fremd; kein einziges Mal fragte ich meine Schwester, ob dieses letzte Relikt ihrer einstigen Liebäugelei mit dem Christentum angesichts ihrer neuen Rolle als Bülbül des Glaubens nicht einen eher schlechten Eindruck machte ...
Ist es möglich, die Ursprünge einer unnatürlichen Liebe aufzuspüren? Wurde Saleem, der sich nach einem Platz im Mittelpunkt der Geschichte gesehnt hatte, berauscht von dem, was er von seinen eigenen Lebenshoffnungen in seiner Schwester wiederfand? Verliebte sich die arg verstümmelte einstmalige Rotznase, ein Mitglied der Mitternachtskinder-Konferenz, das man ebenso zugrunde gerichtet hatte wie das von einem Messer verunstaltete Bettlermädchen Sundari, in die neue Ganzheit seiner Schwester? Betete ich, einst der Mubarak, der Gesegnete, in meiner Schwester die Erfüllung meiner geheimsten Träume an? ... Ich sage nur, dass ich mir
dessen, was geschah, vollkommen unbewusst war, bis ich mit einem Roller zwischen meinen sechzehn Jahre alten Schenkeln den Fährten der Huren zu folgen begann.
Während Alias Groll schwelte; als die Produktion der Handtücher Marke Amina aufgenommen wurde; inmitten der Verherrlichung von Jamila der Sängerin; als ein Haus mit Zwischengeschossen, das auf Befehl einer Nabelschnur entstand, noch weit von der Fertigstellung entfernt war; zur Zeit der spät erblühten Liebe meiner Eltern; umgeben von den recht öden Gewissheiten des Landes der Reinen ... wurde Saleem Sinai mit sich selbst einig. Ich will nicht sagen, dass er nicht traurig gewesen sei; da ich mich weigere, meine Vergangenheit zu zensieren, gebe ich zu, dass er so mürrisch, oft so unkooperativ, bestimmt so pickelig wie die meisten Jungen seines Alters war. Seine Träume, denen die Kinder der Mitternacht verwehrt waren, waren so von Sehnsucht erfüllt, dass ihm fast übel wurde, und nachts wachte er oft auf, weil der schwere, seine Sinne betäubende Moschusgeruch des Bedauerns Brechreiz bewirkte; es gab Albträume, in denen Zahlen auftauchten, die eins zwei drei marschierten, und ein Paar fest zupackender würgender Greifknie ... doch es gab eine neue Begabung und eine Lambretta und eine (wenn auch noch unbewusste) demütige und unterwürfige Liebe zu seiner Schwester ... ich wende meinen Erzählerblick von der gerade beschriebenen Vergangenheit ab und bestehe darauf, dass es Saleem damals-wie-heute gelang, seine Aufmerksamkeit der noch unbeschriebenen Zukunft zuzuwenden. Wann immer möglich, entfloh ich einer Wohnung, in der die beißenden Gerüche des Neids meiner Tante das Leben unerträglich machten, und einem mit gleichermaßen unangenehmen Gerüchen gefüllten College, bestieg mein Stahlross und erforschte die Geruchsstraßen meiner neuen Stadt. Und nachdem wir vom Tod meines Großvaters in Kaschmir erfahren hatten, war ich sogar noch mehr entschlossen, die Vergangenheit in dem dicken brodelnden Geruchseintopf der Gegenwart zu ertränken. O Schwindel erregende Zeit, da noch
nichts in Kategorien eingeteilt wurde! Ehe ich sie zu formen begann, strömten die Duftmischungen formlos in mich ein: die zerfallenden traurigen Ausdünstungen von Tierkot in den Gärten des Museums an der Frere Road, die pusteligen Körpergerüche junger Männer in weiten Pajamas, die an Sadar-Abenden Händchen hielten, die Messerschärfe ausgespuckter Betelnuss und die bittersüße Vermengung von Betelnuss und Opium: «Raketenpaans» konnte man in den von Händlern überlaufenen Gassen zwischen der Elphinstone Street und der Victoria Road herausriechen. Kamelgerüche, Autogerüche, die wie Mücken aufreizenden Abgase der Motorrikschas, das Aroma von geschmuggelten Zigaretten und Schwarzgeld, die konkurrierenden Ausdünstungen der städtischen Busfahrer und der einfache Schweiß ihrer wie die Ölsardinen
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