Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
und gebar einen modernen Bungalow im amerikanischen Stil mit Zwischenstockwerken? ... Ich verkneife mir diese rätselhaften Fragen und erkläre, dass meine Familie (Tante Alia eingeschlossen) sich an meinem sechzehnten Geburtstag auf unserem Grundstück auf dem Boden der Korangi Road versammelte; unter den Augen einer Gruppe von Arbeitern und dem Bart eines Mullah übergab Ahmed Saleem eine Hacke; ich trieb sie feierlich in die Erde. «Ein neuer Anfang», sagte Amina, «Inshallah, wir werden jetzt alle zu neuen Menschen.» Angespornt von ihrem edlen und unerfüllbaren Verlangen, vergrößerte ein Arbeiter geschwind mein Loch, und nun wurde ein Einmachglas hervorgeholt. Salzlake wurde auf den durstigen Boden ausgegossen, und was innen übrig blieb, erhielt den Segen des Mullahs. Danach wurde eine Nabelschnur – war es meine oder Shivas? – in die Erde gepflanzt, und sofort begann ein Haus zu wachsen. Es gab Süßigkeiten und nichtalkoholische Getränke; der Mullah, der einen bemerkenswerten Appetit an den Tag legte, verzehrte neununddreißig Laddoos, und Ahmed Sinai beschwerte sich kein einziges Mal über die Kosten. Der Geist der vergrabenen Schnur inspirierte die Arbeiter; doch obwohl die Grundmauern bis tief in den Boden reichten,
verhinderten sie nicht, dass das Haus einstürzte, noch ehe wir darin wohnten.
Was ich über die Nabelschnüre vermutete: Obwohl sie die Macht besaßen, Häuser wachsen zu lassen, verstanden einige ihr Handwerk wohl besser als andere. Die Stadt Karatschi gab meinem Standpunkt Recht: Auf vollkommen ungeeigneten Schnüren erbaut, war sie voll von verunstalteten Häusern, den verkrüppelten, buckligen Kindern unzureichender Lebensadern, Häusern, die auf geheimnisvolle Weise blind wurden und deren Fenster man nicht sah, Häusern, die wie Radioapparate oder Klimaanlagen oder Gefängniszellen aussahen, verrückten, kopflastigen Gebäuden, die mit schöner Regelmäßigkeit wie Betrunkene umkippten, wild wuchernden Häusern, deren Unzulänglichkeit als Wohnquartier nur noch von ihrer ganz außergewöhnlichen Hässlichkeit übertroffen wurde. Die Stadt überlagerte die Wüste; aber entweder waren die Schnüre daran schuld oder die Unfruchtbarkeit des Bodens, dass sie sich zu etwas Groteskem auswuchsen.
Als ich nach Karatschi und ins Jünglingsalter kam, konnte ich Trauer und Freude riechen, Intelligenz und Dummheit mit geschlossenen Augen erschnüffeln – und natürlich war mir klar, dass die neuen Nationen des Subkontinents und ich allesamt die Kindheit hinter uns gelassen hatten, dass uns allesamt Wachstumsschmerzen und merkwürdige, unbeholfene stimmliche Veränderungen erwarteten. Die Dränage zensierte mein Innenleben, mein Sinn für Zusammenhänge blieb unvermindert.
Nur mit einer hypersensiblen Nase bewaffnet, drang Saleem in Pakistan ein, aber am schlimmsten von allem war, dass er von der falschen Seite her eindrang! Alle erfolgreichen Versuche, diesen Teil der Welt zu erobern, sind vom Norden ausgegangen, alle Eroberer sind vom Land hergekommen. Ahnungslos gegen die Winde der Geschichte segelnd, erreichte ich Karatschi von Nordosten und vom Meer her. Was folgte, sollte mich eigentlich nicht überrascht haben.
Im Nachhinein betrachtet, hat es offensichtliche Vorteile, von Norden her einzubrechen. Von Norden kamen die Feldherren der Omaijaden, Hadjdjadj bin Jusuf und Mohammed ibn Qasim und auch die Ismailiten. (Honeymoon Lodge, wo angeblich Ali Khan mit Rita Hayworth verweilte, blickte über unser Grundstück mit der Nabelschnur; Gerüchten zufolge erregte der Filmstar viel Anstoß damit, dass er in phantastischen, hauchdünnen Hollywood-Negligés durch den Garten spazierte.) O unabwendbare Überlegenheit des Nordens! Aus welcher Richtung stieg Mahmud von Ghasni in die Indusebene herab und brachte eine Sprache mit, die sich nicht weniger als dreier Formen des Buchstabens S rühmt? Die unausbleibliche Antwort: sé, sind und swad waren Eindringlinge aus dem Norden. Und Mohammed bin Sam Ghuri, der die Ghasnawiden stürzte und das Kalifat von Delhi gründete? Auch Sam Ghuris Sohn drang in Richtung Süden vor.
Und Tughlag und die Mogulherrscher ... aber ich habe deutlich gemacht, was ich meine. Es bleibt nur noch hinzuzufügen, dass wie die Armeen auch Ideen von den nördlichen Höhen nach Süden Süden Süden fegten: Die Legende von Sikandar But-Shikan dem Bilderstürmer aus Kaschmir, der gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts jeden Hindu-Tempel im Tal zerstörte (und so einen
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