Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
durch Zufall, ja, ich schwöre es, ich habe sie nicht darum gebeten, durch Ausprobieren mit einem Mal der unaussprechlichste aller Düfte auf Erden aus dem rissigen, zerknitterten uralt-ledrigen Körper weht, und nun kann er nicht verbergen, was sie sieht, oho, kleiner Sahibzada, ich glaube, ich hab’s, du brauchst mir nicht zu sagen, wer sie ist, aber sie ist mit Sicherheit diejenige, welche.
Und Saleem: «Halt den Mund, halt den Mund ...» Aber mit der Unbarmherzigkeit ihres schnatternden Alters bohrt Tai Bibi weiter: «Oho, ja bestimmt, dein Schatz, kleiner Sahibzada – wer? Deine
Cousine vielleicht? Deine Schwester ...» Saleems Hand ballt sich zur Faust; trotz des verstümmelten Fingers erwägt die rechte Hand Gewalttätigkeit ... und nun spricht Tai Bibi: «Mein Gott, ja! Deine Schwester! Mach schon, schlag mich, du kannst doch nicht verbergen, was da mitten auf deiner Stirn geschrieben steht! ...» Und Saleem sammelt seine Kleider ein, zwängt sich in seine Hose, halt den Mund, alte Hexe, während sie zu ihm sagt: Ja geh, geh doch, aber wenn du mich nicht bezahlst, werde ich, ich werde, du wirst schon sehen, was ich tun werde, und nun fliegen Rupien durch das Zimmer, fallen rings um die fünfhundertzwölf Jahre alte Kurtisane nieder, nimm, nimm, nur halt deine abscheuliche Klappe, während sie spricht: Vorsicht, mein Prinzchen, bist selbst auch keine Schönheit; nun ist er angezogen, stürzt aus der Mietskaserne, die Lambretta wartet, aber Straßenjungen haben auf den Sattel gepinkelt, er fährt davon, so schnell er kann, doch die Wahrheit fährt mit ihm, und nun lehnt sich Tai Bibi aus einem Fenster und brüllt: «He, Bhaenchud! He, kleiner Schwesternficker, wohin so schnell? Was wahr ist, ist wahr, ist wahr ...!»
Mit einiger Berechtigung mögen Sie fragen: Geschah es gerade in ... Und sicher war sie doch nicht fünfhundertzwölf Jahre alt ... aber ich habe geschworen, alles zu gestehen, und ich bestehe darauf, dass ich das unaussprechliche Geheimnis meiner Liebe zu Jamila der Sängerin aus dem Mund und den Duftdrüsen dieser außergewöhnlichsten aller Huren erfuhr.
«Unsere Frau Braganza hat Recht», beschimpft mich Padma. «Sie sagt, die Männer haben nur schmutziges Zeug im Kopf.» Ich ignoriere sie, mit Frau Braganza und ihrer Schwester, Frau Fernandes, werde ich mich zu gegebener Zeit befassen; im Augenblick muss Letztere sich mit der Buchhaltung der Fabrik begnügen, während Erstere sich um meinen Sohn kümmert. Während ich, um die gespannte Aufmerksamkeit meiner angewiderten Padma Bibi wiederzugewinnen, ein Märchen erzähle.
Es war einmal ein Prinz, der lebte in dem im hohen Norden gelegenen Fürstentum Kif. Er hatte zwei wunderschöne Töchter, einen Sohn, der genauso bemerkenswert gut aussah, einen nagelneuen Rolls-Royce und ausgezeichnete politische Kontakte. Dieser Fürst, oder Nawab, glaubte leidenschaftlich an den Fortschritt, weshalb er die Verlobung seiner älteren Tochter mit dem Sohn des wohlhabenden und bekannten Generals Zulfikar arrangiert hatte; was seine jüngere Tochter anbelangte, so machte er sich große Hoffnungen auf eine Verbindung mit dem Sohn des Präsidenten selbst. Sein Automobil, das erste, das je in diesem von Bergen umgebenen Tal gesehen wurde, liebte er fast ebenso sehr wie seine Kinder; es schmerzte ihn, dass seine Untertanen, die sich daran gewöhnt hatten, die Straßen von Kif für gesellschaftliche Zusammenkünfte, Streitereien und Triff-den-Spucknapf-Spiele zu benutzen, ihm nicht aus dem Weg gehen wollten. Er ließ eine Erklärung verbreiten, der zufolge das Auto die Zukunft darstellte und man es vorbeifahren lassen musste; die Leute nahmen keine Notiz von der Mitteilung, obwohl sie an Geschäfte und Mauern und sogar, wie es heißt, an die Flanken von Kühen geklebt wurde. Die zweite Mitteilung war gebieterischer; sie befahl den Bürgern, die Schnellstraßen freizugeben, wenn sie die Hupe des Autos hörten; die Kifs jedoch rauchten und spuckten und stritten weiterhin auf den Straßen. Die dritte Mitteilung, die mit einer blutrünstigen Zeichnung geschmückt war, besagte, dass das Auto fortan jeden überfahren werde, der seiner Hupe nicht gehorchte. Die Kifs fügten der Zeichnung auf dem Plakat neue, anstößigere Kritzeleien hinzu, und dann verfuhr der Nawab, der ein guter Mann war, dessen Geduld jedoch Grenzen kannte, tatsächlich so, wie er angedroht hatte. Als die berühmte Sängerin Jamila mit Familie und Impresario eintraf, um bei der
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