Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
andere ist, sieht man einmal von dem ab, was man uns offiziell mitteilte.
... Als die jungen pakistanischen Soldaten das Sumpfgebiet des Ran betraten, brach ihnen kalter, klebriger Schweiß auf der Stirn aus, das grünliche, meeresgrundähnliche Licht ängstigte sie, und sie erzählten sich Geschichten, die ihnen noch mehr Furcht einjagten, Sagen von schrecklichen Dingen, die in diesem Wasserland geschahen, von dämonischen Seeungeheuern mit glühenden Augen, von Fischfrauen, deren Fischköpfe sich unter Wasser befanden und dort atmeten, während ihre vollendet geformten nackten menschlichen Unterleiber auf dem Strand lagen und die Unbedachten zu verhängnisvollen sexuellen Akten verlockten, denn es ist wohl bekannt, dass keiner mit dem Leben davonkommt, der eine Fischfrau geliebt hat ... sodass sie, bis sie die Grenzposten erreichten und in den Krieg zogen, ein verstörter Haufen siebzehnjähriger Jungen waren, die sicherlich aufgerieben worden wären, wenn nicht die gegnerischen Inder der grünen Luft des Ran noch viel länger ausgesetzt gewesen wären als sie; in dieser Zauberwelt wurde also ein verrückter Krieg ausgefochten, in dem jede Seite dachte, sie sähe
Ausgeburten der Hölle auf der Seite ihres Feindes kämpfen; doch am Ende streckten die indischen Soldaten die Waffen; viele von ihnen brachen unter Tränen zusammen und weinten, Gott sei Dank, es ist vorbei; sie erzählten von den großen schlüpfrigen Dingern, die nachts um die Grenzposten schwabbelten, und den in der Luft schwebenden Geistern von Ertrunkenen, die Kränze aus Tang und Muscheln in den Nabeln hatten.
Was die kapitulierenden indischen Soldaten im Beisein meines Vetters sagten: «Und überhaupt waren diese Grenzposten leer; wir haben gesehen, dass niemand drin war, und sind hineingegangen.»
Das Geheimnis der verlassenen Grenzposten kam den jungen pakistanischen Soldaten, die sie besetzt halten sollten, bis die Ablösung eintraf, zunächst gar nicht rätselhaft vor; meinem Vetter, Leutnant Zafar, fiel auf, dass seine Blase und sein Darm in den sieben Nächten, die er in Gesellschaft von nur fünf Jawans an einem dieser Orte verbrachte, sich mit hysterischer Häufigkeit entleerten. Im Verlauf der vom Gekreisch der Hexen und dem namenlosen schlüpfrigen Schlurfen der Dunkelheit erfüllten Nächte sanken die sechs jungen Männer so entwürdigend tief, dass niemand mehr meinen Vetter auslachte; sie hatten alle genug damit zu tun, in die eigenen Hosen zu machen. Einer der jungen Soldaten flüsterte während des gespenstischen Grauens ihrer vorletzten Nacht entsetzt: «Hört mal, Jungs, wenn ich hier mein Leben lang sitzen müsste, würd’ ich verdammt nochmal auch schleunigst abhauen!»
Ganz aufgelöst und dem Zusammenbruch nahe schwitzten die Soldaten im Ran; und dann, in ihrer letzten Nacht, wurden ihre schlimmsten Ängste bestätigt. Sie sahen aus der Dunkelheit eine Geisterarmee auf sich zukommen; sie waren in dem der Küste am nächsten gelegenen Grenzposten, und in dem grünlichen Mondlicht konnten sie die Segel von Geisterschiffen, von Phantomdhaus erkennen; und die Geisterarmee rückte näher, unaufhaltsam, trotz des Geschreis der Soldaten, Gespenster, die moosbedeckte Truhen und seltsame verhängte Sänften trugen, in denen sich ungesehene
Dinge stapelten; und als die Geisterarmee zur Tür hereinkam, fiel mein Vetter Zafar ihr zu Füßen und begann, unverständliches Zeug zu stammeln.
Dem ersten Phantom, das den Außenposten betrat, fehlten mehrere Zähne, und es trug ein Krummmesser im Gürtel; als es die Soldaten in der Hütte sah, erglühten seine Augen vor scharlachrotem Zorn. «Gott verdammich!», sagte der Obergeist. «Wozu seid ihr Schweinehunde bloß hier? Hat man euch etwa nicht ordentlich ausbezahlt?»
Keine Geister – Schmuggler. Als die sechs jungen Soldaten wieder zu sich kamen, merkten sie, dass sie die absurdesten Stellungen eingenommen hatten, getrieben von erniedrigender Furcht, und obwohl sie versuchten, das wieder wettzumachen, war ihre Schande überwältigend vollkommen – und jetzt kommen wir zur Sache. In wessen Auftrag arbeiteten die Schmuggler? Wessen Name kam über die Lippen des Schmugglerbosses und bewirkte, dass mein Vetter vor Entsetzen die Augen aufriss? Wessen Vermögen, das ursprünglich auf dem Elend von Hindu-Familien gründete, die im Jahre 1947 geflüchtet waren, wurde nun vergrößert durch die Schmugglerkolonnen, die im Frühjahr und im Sommer durch den ungeschützten Ran zogen und von
Weitere Kostenlose Bücher