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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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dort in die Städte Pakistans? Welcher General mit einem Kasperl-Gesicht und einer Stimme, so dünn wie eine Rasierklinge, befehligte die Phantomtruppen? ... Doch ich will mich auf die Tatsachen konzentrieren. Im Juli 1965 kehrte mein Vetter Zafar auf Urlaub in sein Vaterhaus in Rawalpindi zurück, und eines Morgens ging er langsam auf das Schlafzimmer seines Vaters zu – auf seinen Schultern trug er nicht nur die Erinnerung an die tausend Demütigungen und Schläge, die er in seiner Kindheit erduldet hatte, nicht nur die Schande, lebenslänglich ein Bettnässer zu sein, sondern auch das Wissen, dass sein eigener Vater die Verantwortung für Das-was-im-Ran-geschah trug, als Zafar Zulfikar nur noch ein brabbelndes, am Boden kauerndes Nichts gewesen war. Mein Vetter fand seinen Vater in der Badewanne neben
dem Bett vor und schnitt ihm mit dem langen Krummmesser eines Schmugglers die Kehle durch.
    Hinter Zeitungsberichten verborgen – HEIMTÜCKISCHE INDISCHE INVASION VON UNSEREN TAPFEREN JUNGS ZURÜCKGESCHLAGEN –, wurde die Wahrheit über General Zulfikar zu etwas geisterhaft Ungewissem; dass die Grenzwachen bestochen worden waren, hieß in den Zeitungen: UNSCHULDIGE SOLDATEN VON INDISCHEN TRUPPEN HINGEMETZELT; und wer sollte die Geschichte von der umfangreichen Schmugglertätigkeit meines Onkels verbreiten? Welcher General, welcher Politiker besaß nicht die Transistorradios der Gesetzeswidrigkeit meines Onkels, die Klimaanlagen und die importierten Uhren seiner Sünden? General Zulfikar starb; Vetter Zafar ging ins Gefängnis und brauchte nicht die Ehe mit einer Prinzessin aus Kif einzugehen, die sich hartnäckig weigerte zu menstruieren, eben um nicht die Ehe mit ihm eingehen zu müssen; und die Vorfälle im Ran von Kutch wurden sozusagen der Zunder für das größere Feuer, das im August ausbrach, das Feuer des Endes, in dem Saleem schließlich unfreiwillig seine schwer bestimmbare Reinheit erhielt.
    Was meine Tante Emerald betraf. Man gab ihr die Erlaubnis auszuwandern; sie hatte Vorbereitungen dazu getroffen und wollte nach Suffolk in England gehen, wo sie bei dem ehemaligen Kommandeur ihres Mannes, Brigadegeneral Dodson, wohnen sollte, der im Greisenalter begonnen hatte, seine Zeit in der Gesellschaft gleichaltriger Indienhasen zu verbringen und dabei alte Filme von Delhi-Durbar und der Ankunft von Georg V. am Tor zu Indien anzusehen ... sie freute sich auf das leere Vergessen der Nostalgie und auf den englischen Winter, als der Krieg kam und all unsere Probleme löste.

    Am ersten Tag des «falschen Friedens», der bloße siebenunddreißig Tage anhalten sollte, traf Ahmed Sinai der Schlag. Er blieb linksseitig gelähmt und fing an, zu sabbern und zu lallen wie ein kleines Kind; auch er gab unsinniges Zeug von sich und legte eine ausgesprochene Vorliebe für die unartigen Ausdrücke an den Tag, die Kinder für Exkremente verwenden. «Aa» und «Pipimännchen» kichernd, gelangte mein Vater ans Ende seiner wechselvollen Laufbahn, nachdem er noch einmal, ein letztes Mal, vom Weg abgekommen war und auch den Kampf mit den Dschinns verloren hatte. Gelähmt und gackernd saß er inmitten der Ausschussware seines Lebens; inmitten der Ausschussware beugte auch meine Mutter, die unter dem Gewicht ihrer ungeheuerlichen Schwangerschaft zermalmt wurde, ernst den Kopf, wenn sie von Lila Sabarmatis Pianola besucht wurde oder vom Geist ihres Bruders Hanif oder einem Paar Hände, das wie Motten um eine Flamme um ihre eigenen Hände tanzte ... Fregattenkapitän Sabarmati besuchte sie mit seinem seltsamen Stab in der Hand, und Nussie-die-Ente flüsterte: «Das Ende, Amina Schwester! Das Ende der Welt!» in das welk werdende Ohr meiner Mutter ... und nachdem ich mich nun durch die krankhafte Realität meiner Jahre in Pakistan gekämpft habe, nachdem ich mich abgemüht habe, ein wenig Sinn in das zu bringen, was (durch den Schleier der Rache meiner Tante Alia hindurch) aussah wie eine Reihe schrecklicher, unerklärlicher Vergeltungsmaßnahmen dafür, dass wir uns von unseren Bombayer Wurzeln entfernt hatten, habe ich nun den Punkt erreicht, an dem ich Ihnen von Enden erzählen muss.
    Lassen Sie mich Folgendes unmissverständlich klarstellen: ich bin der festen Überzeugung, dass der geheime Zweck des indo-pakistanischen Krieges von 1965 nicht mehr und nicht weniger war als die Tilgung meiner umnachteten Familie vom Angesicht der Erde. Um die neuere Geschichte unserer Zeit zu verstehen, muss man nur das Bombenmuster dieses

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