Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
holte, es vermied, ihr die Laibe selbst zu überreichen; gelegentlich bat er seine giftige Tante, als Zwischenhändlerin zu agieren. Alia sah ihn amüsiert an und fragte: «Was ist denn mit dir los, Junge – du hast doch keine ansteckende Krankheit?» Saleem errötete unbändig, da er fürchtete, seine Tante könne etwas von seinem
Umgang mit käuflichen Frauen erraten haben, und vielleicht stimmte das auch, aber sie war hinter Wichtigerem her.
... Er entwickelte überdies die Neigung, in langes dumpfes Schweigen zu verfallen, das er unterbrach, indem er plötzlich mit einem bedeutungslosen Wort herausplatzte: «Nein!» oder «Aber!» oder mit noch mysteriöseren Ausrufen wie «Peng!» oder «Wumm!». Unsinnige Worte inmitten trüben Schweigens: als führe Saleem einen inneren Dialog von solcher Intensität, dass Bruchstücke dieses Dialogs oder der Pein, die er bereitete, von Zeit zu Zeit über seine Lippen sprudelten. Der innere Missklang wurde zweifellos durch die Currygerichte der Unruhe verschlimmert, die wir essen mussten; und am Ende, als Amina so heruntergekommen war, dass sie mit unsichtbaren Wäschetruhen sprach, und Ahmed, seit seinem Schlaganfall nur noch ein Schatten seiner selbst, kaum mehr als sabbern und kichern konnte, während ich mich zurückzog und stumm grollte, musste meine Tante äußerst zufrieden darüber gewesen sein, dass sie sich so effektvoll am Sinai-Clan gerächt hatte. Es sei denn, auch sie wäre durch die Erfüllung ihrer lang gehegten Begierde ausgelaugt gewesen; in dem Fall hatte auch sie keine Möglichkeiten mehr, und ihre Schritte hallten hohl, wenn sie, das Kinn mit Enthaarungspflaster beklebt, durch das Irrenhaus stolzierte, zu dem ihr Haus geworden war, während ihre Nichte aufsprang, weil irgendeine Stelle im Fußboden plötzlich heiß geworden war, und ihr Neffe aus dem Nichts «Yaa!» brüllte und ihrem einstmaligen Verehrer die Spucke übers Kinn lief und Amina die wiederauferstandenen Geister ihrer Vergangenheit begrüßte: «Ihr seid also wieder da; nun ja, warum nicht? Nichts scheint jemals ganz zu verschwinden. »
Tick, tack ... Im Januar 1965 stellte meine Mutter Amina Sinai fest, dass sie wieder schwanger war, nach einer Pause von siebzehn Jahren.
Als sie sich sicher war, teilte sie die gute Nachricht ihrer großen Schwester Alia mit und gab meiner Tante Gelegenheit, ihre Rache
zu vervollkommnen. Was Alia zu meiner Mutter sagte, ist nicht bekannt; was sie in ihre Gerichte rührte, kann nur gemutmaßt werden, doch die Wirkung auf Amina war jedenfalls verheerend. Sie wurde von Träumen von einem missgestalteten Kind mit einem Blumenkohl anstelle des Gehirns geplagt; sie wurde von Erscheinungen Ramram Seths bedrängt, und die alte Prophezeiung von einem Kind mit zwei Köpfen fing an, sie von neuem ganz verrückt zu machen. Meine Mutter war zweiundvierzig Jahre alt, und die Angst (die sowohl ihrer Natur entsprang als auch von Alia hervorgerufen wurde), in diesem Alter noch ein Kind zu bekommen, trübte den Glanz, der sie umgab, seitdem sie ihrem Mann durch ihre Fürsorge zu seinem Liebesherbst verholfen hatte; unter dem Einfluss des Kormas der Rache meiner Tante – mit schlimmen Prophezeiungen und Kardamom gewürzt – bekam meine Mutter Angst vor ihrem Kind. Während die Monate vergingen, begannen ihre zweiundvierzig Jahre einen schrecklichen Zoll zu fordern; das Gewicht ihrer vier Jahrzehnte nahm täglich zu, und sie wurde unter ihrem Alter zerdrückt. Im zweiten Monat wurde ihr Haar weiß. Im dritten war ihr Gesicht verschrumpelt wie eine verfaulende Mango. Im vierten Monat war sie bereits eine alte Frau, zerfurcht und dick, wieder einmal von Warzen gequält, und wieder sprossen die unvermeidlichen Haare in ihrem Gesicht; wieder einmal schien sie in einen Nebel von Schuld eingehüllt, als sei es eine Schande, wenn eine Dame in so offenkundig ehrwürdigem Alter noch ein Baby bekam. Während das Kind jener verworrenen Zeit in ihr wuchs, wurde der Gegensatz zwischen seiner Jugend und ihrem Alter immer größer; und zu diesem Zeitpunkt fiel sie in einen alten Rohrsessel und empfing Besuche von den Geistern ihrer Vergangenheit. Der Verfall meiner Mutter war in seiner Plötzlichkeit entsetzlich; Ahmed Sinai sah hilflos zu und wurde mit einem Mal gewahr, dass er kraftlos, hilflos, entmannt war.
Selbst jetzt fällt es mir schwer, über diese Zeit des Endes aller Möglichkeit zu schreiben, in der mein Vater merkte, dass seine
Handtuchfabrik dem Ruin entgegenging. Die
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