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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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September die Linie bei Chhamb überschritten, waren sie da Aggressoren oder nicht?
    Was feststeht: dass die Stimme von Jamila der Sängerin pakistanische Truppen in den Tod sang und dass Muezzins uns von ihren Minaretten herab – ja, sogar in der Clayton Road – versprachen, dass jeder, der im Kampf sterbe, geradewegs in den Kampfergarten eingehe. Die Mudschahid-Philosophie von Syed Ahmad Barilwi bestimmte die Atmosphäre; wir wurden aufgefordert, Opfer zu bringen «wie nie zuvor».
    Und im Radio, welche Vernichtung, welches Gemetzel! In den ersten fünf Tagen des Krieges verkündete die Voice of Pakistan die Zerstörung von mehr Flugzeugen, als Indien je besessen hatte; in acht Tagen massakrierte All-India Radio die pakistanische Armee bis zum letzten Mann und weit darüber hinaus. Vollkommen außer mir durch den doppelten Wahnsinn des Krieges und meines Privatlebens, begann ich verwegene Gedanken zu denken ...
    Große Opfer: zum Beispiel bei der Schlacht um Lahore? – Am 6. September überquerten indische Truppen die Grenze bei Wagah und verbreiterten dadurch die Front beträchtlich, die nun nicht mehr nur auf Kaschmir beschränkt war; und wurden große Opfer gebracht oder nicht? Stimmte es, dass die Stadt praktisch ungeschützt war, weil sich die ganze pakistanische Armee und Luftwaffe im kaschmirischen Sektor befanden? Die Voice of Pakistan tönte: O denkwürdiger Tag! O unwiderlegbare Lektion in der Fatalität des Aufschubs! Im Vertrauen darauf, die Stadt einnehmen zu können, stoppten die Inder ihren Vormarsch und legten eine Frühstückspause ein. All-India Radio gab den Fall von Lahore bekannt; unterdessen entdeckte ein Privatflugzeug die Invasoren beim Frühstück. Während die BBC die Geschichte vom AIR übernahm, wurde die Bürgerwehr
Lahores mobilisiert. Hören Sie die Voice of Pakistan! – alte Männer, junge Knaben, zornentbrannte Großmütter bekämpften die indische Armee, Brücke um Brücke verteidigten sie mit jeder verfügbaren Waffe! Lahme Männer beluden ihre Taschen mit Granaten, zogen die Sicherungsstifte, warfen sich vor heranrückende indische Panzer; zahnlose alte Damen entleibten indische Babus mit Mistgabeln! Sie starben bis auf den letzten Mann und das letzte Kind, doch sie retteten die Stadt, wehrten die Inder ab, bis Unterstützung aus der Luft eintraf! Märtyrer, Padma! Helden, für den Kampfergarten bestimmt! Wo den Männern vier wunderschöne Huris, unberührt von Mensch und Dschinn, beigesellt würden und den Frauen vier entsprechend virile Männer. Welchen der Segnungen deines Herrn würdest du dich versagen? Was ist dieser heilige Krieg doch für eine tolle Sache, in dem die Menschen mit einem außerordentlichen Opfer alle ihre Schandtaten sühnen können! Kein Wunder, dass Lahore verteidigt wurde; worauf konnten die Inder sich schon freuen? Nur auf die Wiedergeburt – als Kakerlaken vielleicht oder als Skorpione oder Wunderheiler, da gibt’s doch wirklich keinen Vergleich.
    Aber stimmte es oder nicht? Lief es so ab oder nicht? Oder sagte All-India Radio – große Panzerschlacht, riesige pakistanische Verluste, 450 Panzer zerstört - die Wahrheit?
    Nichts war wirklich, nichts sicher. Onkel Puffs kam zu Besuch in das Haus in der Clayton Road und hatte keine Zähne mehr im Mund. (Zur Zeit des indisch-chinesischen Grenzkriegs, als unsere Loyalität woanders lag, hatte meine Mutter goldene Spangen und juwelenbesetzte Ohrringe für die «Gold für Eisen»-Kampagne gestiftet; aber was war das schon, verglichen mit der Opferung eines ganzen Mundes voll Gold?) «Die Nation», sagte er undeutlich durch seine zahnlosen Kiefer, «darf nicht, verflixt nochmal, wegen der Eitelkeit eines Mannes Mangel leiden!» – Aber hatte er es wirklich getan oder nicht? Wurden die Zähne wirklich im Namen des heiligen Krieges geopfert, oder lagen sie zu Hause in einem Schrank? «Ich
fürchte», sagte Onkel Puffs mit gepresster Stimme, «du musst noch eine Weile auf diese besondere Mitgift warten, die ich dir versprochen habe.» – Vaterlandsliebe oder Geiz? War dieses Entblößen der Kiefer ein außerordentlicher Beweis für seine Vaterlandsliebe oder ein mieser Trick, um zu verhindern, dass er einen Puffia-Mund mit Gold füllen musste?
    Und gab es Fallschirmspringer oder nicht? «... sind über jeder größeren Stadt abgesprungen», verkündete die Voice of Pakistan. «Alle wehrfähigen Personen sind verpflichtet, bewaffnet Wache zu halten und nach Beginn der Sperrstunde bei Anbruch der

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