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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Möchtegernattentäter wahrscheinlich kein großer Trost, wenn er wüsste, dass er einfach von einer Welle der Geschichte mitgerissen worden war, einer Strömung, bei der immer wieder beobachtet wurde, dass Söhne (von hoher und von niedriger Geburt) sich außergewöhnlich schlecht benahmen. (Nein, ich nehme mich selbst nicht aus.)
    Kluft zwischen Berichterstattung und Wirklichkeit: Zeitungen zitierten ausländische Ökonomen – PAKISTAN MODELL FÜR ENTWICKLUNGSLÄNDER –, während Bauern (ohne dass darüber berichtet wurde) die «grüne Revolution» verfluchten und behaupteten, dass die meisten der neu gebohrten Brunnen nutzlos, vergiftet und sowieso am falschen Ort seien; Leitartikel priesen die Integrität der Führungsspitze der Nation, während Gerüchte, dicht wie Fliegenschwärme, umliefen über Schweizer Bankkonten und die neuen amerikanischen Wagen des Präsidentensohnes. Die Dawn in Karatschi sprach von einer weiteren Morgenröte – GUTE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN INDIEN UND PAKISTAN ZU ERWARTEN? –, doch im Ran von Kutch deckte ein weiterer unzulänglicher Sohn eine andere Geschichte auf.
    In den Städten: Trugbilder und Lügen; im Norden, hoch in den Bergen, bauten die Chinesen Straßen und planten Atombombenexplosionen; aber es ist Zeit, sich vom Allgemeinen dem Besonderen zuzuwenden oder, um genauer zu sein, dem Sohn des Generals, meinem Vetter, dem Bettnässer Zafar Zulfikar. Er wurde zwischen April und Juli zum Prototyp der vielen enttäuschenden Söhne des Landes; ihn als Werkzeug benutzend, deutete die Geschichte mit
ihrem Finger auf Gauhar, auf den zukünftigen Sanjay und den noch bevorstehenden Kanti Lal und natürlich auf mich.
    Also – Vetter Zafar. Mit dem ich zu jener Zeit viel gemeinsam hatte ... mein Herz war erfüllt von verbotener Liebe, seine Hosen füllten sich trotz aller Anstrengungen andauernd mit etwas Fassbarerem, aber gleichermaßen Verbotenem. Ich träumte von mythischen Liebenden, sowohl glücklichen als auch solchen, die unter einem unglücklichen Stern standen – Schah Jehan und Mumtaz Mahal, aber auch Montague und Capulet; er träumte von seiner Verlobten aus Kif, die ihm in seinen Gedanken, weil sie selbst nach ihrem sechzehnten Geburtstag nicht in die Pubertät kam, wie eine Phantasiegestalt in unerreichbarer Zukunft vorgekommen sein muss ... im April 1965 wurde Zafar zu Manövern in das von Pakistan kontrollierte Gebiet des Ran von Kutch geschickt.
    Grausamkeit des Kontinents gegenüber dem mit schwacher Blase: Zafar war, obwohl Leutnant, Zielscheibe des Spotts im Militärstützpunkt Abbotabad. Es ging die Geschichte um, man habe ihm befohlen, eine Unterhose aus Gummi wie einen Ballon um seine Geschlechtsteile zu tragen, damit die glorreiche Uniform der Pak-Armee nicht entweiht würde; einfache Soldaten bliesen, wenn er vorbeiging, anzüglich die Backen auf. (All das gelangte später an die Öffentlichkeit dank der Erklärung, die er unter Tränen abgab, nachdem man ihn wegen Mordes verhaftet hatte.) Möglicherweise hatte sich ein taktvoller Vorgesetzter, der nur versuchte, Zafar aus der Schusslinie des Abbotabader Humors zu entfernen, seine Verlegung zum Ran von Kutch ausgedacht ... Inkontinenz verdammte Zafar Zulfikar zu einem Verbrechen, das genauso abscheulich war wie meines. Ich liebte meine Schwester, während er ... aber lassen Sie mich die Geschichte in der richtigen Reihenfolge erzählen.
    Bereits seit der Teilung war der Ran «umstrittenes Gebiet», obwohl in der Praxis keine Seite große Lust hatte, sich auf einen Konflikt einzulassen. Auf den Hügeln entlang dem 23. Breitengrad,
der inoffiziellen Grenze, hatte die pakistanische Regierung eine Kette von Grenzposten errichtet und jeden mit einer einsamen Besatzung von sechs Mann und einem Signalfeuer ausgestattet. Mehrere dieser Posten wurden am 9. April 1965 von Truppen der indischen Armee besetzt; pakistanische Verbände, zu denen mein Vetter Zafar gehörte und die Manöver in dem Gebiet abgehalten hatten, eröffneten einen zweiundachtzig Tage währenden Kampf um die Grenze. Der Krieg im Ran dauerte bis zum I. Juli. So viel steht fest, aber alles andere liegt unter der zweifach dunstigen Atmosphäre von Unwirklichkeit und Heuchelei verborgen, die alle Vorgänge in jener Zeit beeinflusste und besonders die in dem phantasmagorischen Ran ... sodass die Geschichte, die ich erzählen will und die im Wesentlichen der von meinem Vetter Zafar erzählten entspricht, höchstwahrscheinlich genauso wahr wie alles

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