Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
von meinem Onkel hörte ich nur die nackten Tatsachen. Er hatte sie durch diplomatische Kanäle zu Ohren bekommen, die auf psychologisches Theoretisieren nicht eingehen.) Zwei Tage nach ihrer Tirade gegen die Kriegstreiber war meine Schwester vom Erdboden verschwunden. Onkel Mustapha versuchte es zart fühlend
auszudrücken: «Schlimme Dinge geschehen dort drüben, Saleem. Andauernd verschwinden Menschen: Wir müssen das Schlimmste befürchten.»
Nein! Nein nein nein! Padma, er irrte sich! Jamila verschwand nicht in den Fängen des Staates, denn in derselben Nacht träumte ich, dass sie im Schutze der Dunkelheit und eines einfachen Schleiers, nicht dem augenblicklich erkennbaren Zelt aus Goldbrokat von Onkel Puffs, sondern einer gewöhnlichen schwarzen Burqa, mit dem Flugzeug aus der Hauptstadt floh, und hier ist sie, kommt in Karatschi an, nicht verhört, nicht verhaftet, frei. Sie nimmt ein Taxi, das sie in die Tiefen der Stadt führt, und jetzt kommt eine hohe Mauer mit verriegelten Toren und einer Luke, durch die ich vor langer Zeit einmal Brot erhielt, das gesäuerte Brot, für das meine Schwester eine Schwäche hatte: Sie bittet darum, hereingelassen zu werden, Nonnen öffnen die Tore, als sie um Asyl bittet, ja, da ist sie, sie ist in Sicherheit. Tore werden hinter ihr verriegelt, sie tauscht eine Unsichtbarkeit gegen eine andere ein; nun gibt es eine andere Ehrwürdige Mutter, als Jamila die Sängerin, die als Messingäffchen einmal mit dem Christentum liebäugelte, Sicherheit Schutz Frieden in dem verborgen lebenden Orden der heiligen Ignatia findet ... ja, sie ist dort in Sicherheit, nicht verschwunden, nicht in den Händen der Polizei, die tritt prügelt verhungern lässt, sondern sie hat Ruhe gefunden, nicht in einem anonymen Grab am Ufer des Indus, nein, sondern sie lebt; während sie Brot backt, singt sie süß für die verborgenen Nonnen; ich weiß es, ich weiß es, ich weiß es. Woher weiß ich es? Ein Bruder weiß so etwas, das ist alles.
Wieder einmal bestürmt mich Verantwortung: Es führt kein Weg daran vorbei – Jamilas Fall war, wie üblich, ganz und gar meine Schuld.
Vierhundertzwanzig Tage lang lebte ich im Haus von Herrn Mustapha Aziz ... Saleem betrauerte nachträglich seine Toten, doch glauben Sie keinen Augenblick lang, dass meine Ohren verschlossen
gewesen wären! Glauben Sie nicht, ich hätte nicht gehört, was um mich herum gesagt wurde, hätte den ewigen Streit zwischen Onkel und Tante nicht mitbekommen (der zu seinem Entschluss, sie ins Irrenhaus einweisen zu lassen, beigetragen haben mag). Sonia Aziz schrie gellend: «Dieser Straßenkehrer – dieser dreckige Kerl, noch nicht einmal dein Neffe ist er. Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist, wir sollten ihn vor die Tür setzen!» Und Mustapha antwortete ruhig: «Der arme Junge ist vor Kummer ja ganz durcheinander – wie können wir also, du musst ihn dir nur einmal ansehen. Er ist nicht ganz richtig im Kopf, hat so viel durchgemacht.» Nicht ganz richtig im Kopf! Das war ungeheuerlich, dass das ausgerechnet von ihnen kam – von dieser Familie, neben der ein Stamm schnatternder Kannibalen beherrscht und zivilisiert ausgesehen hätte! Warum ließ ich mir das gefallen? Weil ich ein Mann war, der einen Traum träumte. Aber vierhundertzwanzig Tage lang ging dieser Traum nicht in Erfüllung.
Ein traurig herunterhängender Schnurrbart, groß-aber-gebeugt, eine ewige Nummer zwei: Mein Onkel Mustapha war nicht mein Onkel Hanif. Er war nun das Oberhaupt der Familie, der Einzige seiner Generation, der den Holocaust von 1965 überlebt hatte; aber er war mir überhaupt keine Hilfe ... eines bitteren Abends wagte ich mich in seine mit Genealogien voll gestopfte Höhle und erklärte ihm – mit angemessener Feierlichkeit und ehrerbietigen, jedoch entschlossenen Gesten – meine historische Mission, die Nation vor dem Verderben zu retten. Er aber seufzte tief und sagte: «Hör zu, Saleem, was soll ich deiner Ansicht nach tun? Du wohnst bei mir, du isst mein Brot und tust nichts – aber das ist in Ordnung, du hast schließlich zum Haushalt meiner verstorbenen Schwester gehört, und ich muss für dich sorgen – also bleib, ruh dich aus, erhol dich, dann wollen wir weitersehen. Wenn du einen Posten als Angestellter oder so etwas haben willst, das kann vielleicht arrangiert werden. Aber verzichte auf diese Träume von Gott-weiß-was. Unser Land ist in sicheren Händen. Schon jetzt führt Indiraji radikale Reformen
durch –
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