Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
gegenüber den Kindern dermaßen zunahm, dass wir in täglicher Erwartung eines Mordes lebten, und am Ende sah mein Onkel Mustapha sich gezwungen, sie einsperren zu lassen, weil ihre Exzesse ihn in seiner Arbeit beeinträchtigten.
Dies war also die Familie, in die ich gekommen war. Ihre Anwesenheit in Delhi kam in meinen Augen schließlich einer Entweihung meiner eigenen Vergangenheit gleich; in einer Stadt, die für mich für alle Zeiten von den Geistern des jungen Ahmed und der jungen Amina in Beschlag belegt war, krabbelte diese schreckliche Fliege auf geweihtem Boden.
Aber nie kann mit Sicherheit bewiesen werden, dass die genealogische
Leidenschaft meines Onkels in den kommenden Jahren in den Dienst einer Regierung gestellt wurde, die immer mehr dem Zwillingszauber von Macht und Astrologie verfiel; sodass, was in der Herberge der Witwen geschah, ohne seine Hilfe vielleicht nie geschehen wäre ... aber nein, auch ich bin ein Verräter gewesen, ich verdamme nicht, ich sage nur, dass ich unter seinen genealogischen Tagebüchern einmal eine schwarze Ledermappe mit dem Etikett TOP SECRET und dem Titel PROJEKT MKK sah.
Das Ende ist nahe und kann nicht mehr lange aufgeschoben werden; aber während sich die Indira-Regierung genauso, wie es einst unter dem Regime ihres Vaters geschah, täglich mit Lieferanten okkulten Gedankengutes berät, während Seher aus Benares dazu beitragen, die Geschichte Indiens zu formen, muss ich zu schmerzlichen persönlichen Erinnerungen abschweifen, denn bei Onkel Mustapha erhielt ich Gewissheit über den Tod meiner Familie im Krieg von 65 und auch über das Verschwinden der berühmten pakistanischen Sängerin Jamila wenige Tage vor meiner Ankunft.
... Als die verrückte Tante Sonia hörte, dass ich im Krieg auf der falschen Seite gekämpft hatte, weigerte sie sich, mir Essen zu geben (wir saßen beim Abendbrot), und kreischte: «Gott, du bist vielleicht unverfroren, ist dir das klar? Hast du denn keine Grütze im Kopf? Kommt ins Haus eines hohen Beamten – ein entflohener Kriegsverbrecher, Allah! Willst du, dass dein Onkel seine Stelle verliert? Willst du, dass wir alle auf die Straße gesetzt werden? Du solltest dir vor Scham die Ohren halten! Geh – geh, mach, dass du fortkommst, oder besser: Wir sollten die Polizei rufen und dich auf der Stelle ausliefern! Geh, lass dich gefangen nehmen, was soll das uns kümmern, du bist noch nicht einmal der leibliche Sohn unserer dahingeschiedenen Schwester ...»
All das trifft Saleem wie der Blitz: Er muss um seine Sicherheit fürchten und erfährt gleichzeitig die unumstößliche Wahrheit: Seine Mutter ist tot; außerdem begreift er, dass seine Position schwächer ist, als er dachte, denn in diesem Zweig der Familie ist der Akt der
Anerkennung nicht vollzogen worden; Sonia, die weiß, was Mary Pereira gestand, ist zu allem fähig! ... Und ich sage mit dünner Stimme: «Meine Mutter? Dahingeschieden?» Und nun sagt Onkel Mustapha, der vielleicht spürt, dass seine Frau zu weit gegangen ist, widerstrebend: «Mach dir nichts draus, Saleem. Natürlich musst du bleiben – muss er doch, Frau, was soll er sonst tun? – Und der arme Kerl weiß noch nicht einmal ...»
Dann erzählten sie es mir.
Im Herzen jener verrückten Fliege fiel mir ein, dass ich den Toten mehrere Trauerzeiten schuldete; nachdem ich vom Ableben meiner Mutter, meines Vaters und der Tanten Alia und Pia und Emerald, meines Vetters Zafar und seiner Kifi-Prinzessin, Ehrwürdiger Mutter und meiner entfernten Verwandten Zohra und ihres Ehemanns erfuhr, beschloss ich, die nächsten vierhundert Tage in Trauer zu verbringen, wie es recht und billig war: zehn Trauerzeiten von jeweils vierzig Tagen. Und dann, dann war da noch die Sache mit Jamila der Sängerin ...
Sie hatte erfahren, dass ich während der Kriegswirren in Bangladesch verschwunden war; die Nachricht hatte sie, die ihre Liebe immer erst zeigte, wenn es zu spät war, vielleicht halb um den Verstand gebracht. Jamila, die Stimme Pakistans, Bülbül-des-Glaubens, hatte sich gegen die neuen Herrscher des verstümmelten, mottenzerfressenen, vom Krieg geteilten Pakistan ausgesprochen; während Bhutto dem UN-Sicherheitsrat erzählte: «Wir schaffen ein neues Pakistan! Ein besseres Pakistan! Mein Land hört auf mich!», hielt meine Schwester Schmähreden auf ihn in der Öffentlichkeit; sie, die Reinste der Reinen, die patriotischste der Patrioten, wurde rebellisch, als sie von meinem Tod erfuhr. (So sehe ich es zumindest,
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