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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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halbe Stunde zuvor jemand mit untertassengroßen Augen durch das Fenster im Erdgeschoss eingestiegen war. Sie fand mich mit Parvati-der-Hexe im Bett, und danach hatte mein Onkel Mustapha kein Interesse mehr daran, mir Obdach zu gewähren, sondern er sprach: «Du stammst von Straßenkehrern ab und wirst dein Leben lang ein Dreckskerl bleiben.» Am vierhundertzwanzigsten Tag nach meiner Ankunft verließ ich, aller Familienbande ledig, das Haus meines Onkels und kehrte endlich zu meinem wahren Erbe, Armut und Elend, zurück, um das ich durch Mary Pereiras Verbrechen so lange betrogen gewesen war. Parvati-die-Hexe wartete am Straßenrand auf mich; ich erzählte ihr nicht, dass ich in gewisser Hinsicht über die Unterbrechung froh gewesen war, denn als ich sie im Dunkel jener unerlaubten Mitternacht küsste, hatte ich gesehen, wie ihr Gesicht sich veränderte und zum Gesicht einer verbotenen Liebe wurde; die geisterhaften Züge Jamilas der Sängerin traten an die Stelle der Züge des Hexenmädchens. Jamila, die sich (ich weiß es!) in ein Nonnenkloster in Karatschi gerettet hatte, war plötzlich ebenfalls hier, nur hatte sie eine geheimnisvolle Verwandlung durchgemacht. Sie hatte begonnen zu faulen, die entsetzlichen Pusteln und Geschwüre verbotener Liebe breiteten sich über ihr Gesicht aus. So wie einst der Geist Joe D’Costas verfault war, besessen von der okkulten Lepra der Schuld, blühten die widerlichen Blumen des Inzests auf dem gespensterhaften Gesicht meiner Schwester, und ich konnte es nicht, konnte dieses unerträgliche Geistergesicht nicht küssen berühren ansehen. Ich war nahe daran, mit einem Schrei verzweifelter Sehnsucht und Beschämung zurückzuzucken, als Sonia Aziz mit elektrischem Licht und Geschrei über uns herfiel.
    Und was Mustapha betraf, so war der verfängliche Akt, den ich zusammen mit Parvati beging, in seinen Augen vielleicht nicht mehr als ein nützlicher Vorwand, um mich loszuwerden; doch ob es wirklich stimmt, wird sich nie mit Sicherheit beweisen lassen, weil die schwarze Mappe verschlossen war – mein Verdacht stützt sich nur auf einen bestimmten Ausdruck in seinen Augen, einen Geruch von Angst, drei Initialen auf einem Etikett – und weil später, als alles zu Ende war, eine gefallene Dame und ihr schamlippiger Sohn hinter geschlossenen Türen zwei Tage damit verbrachten, Akten zu verbrennen. Und wie können wir wissen, ob eine davon mit MKK etikettiert war oder nicht?
    Ich wollte sowieso nicht bleiben. Familie: ein überbewerteter Begriff. Glauben Sie nicht, dass ich traurig gewesen wäre! Glauben Sie bloß nicht, dass mir bei meinem Ausschluss aus dem letzten gastfreundlichen Heim, das mir offen stand, ein Kloß im Halse hochgestiegen wäre! Ich sage Ihnen, ich war guter Laune, als ich wegging ... vielleicht stimmt etwas bei mir nicht, vielleicht mangelt es mir grundsätzlich an emotionaler Reaktionsfähigkeit; doch meine Gedanken strebten immer nach Höherem. Daher bin ich so unverwüstlich. Schlagen Sie mich: Ich stehe wieder auf. (Aber gegen die Risse nützt kein Widerstand.)
    Um das Ganze zusammenzufassen: Ich entsagte meinen früheren naiven Hoffnungen auf ein höheres Amt im Staatsdienst und kehrte zum Slum der Magier und der Chaya der Freitagsmoschee zurück. Wie Gautama, der erste und wahre Buddha, gab ich mein bequemes Leben auf und ging wie ein Bettler in die Welt. Das war am 23. Februar 1973, Bergwerke und Weizenhandel wurden verstaatlicht, die Ölpreisspirale drehte sich immer höher und sollte nach einem Jahr viermal so hoch sein, in der Kommunistischen Partei Indiens war die Kluft zwischen Danges Moskau-Fraktion und Namboodiripads CPI(M) unüberbrückbar geworden, und ich, Saleem Sinai, war wie Indien fünfundzwanzig Jahre, sechs Monate und acht Tage alt.
     
    Die Magier waren durch die Bank Kommunisten. Ja, richtig: Rote! Aufrührer, eine Gefahr für die Öffentlichkeit, der Abschaum der Erde – eine Gemeinschaft von Gottlosen, die lästerlicherweise direkt im Schatten des Gotteshauses lebten! Schamlos noch dazu; in aller Unschuld scharlachrot; geboren mit dem blutigen Fleck auf der Seele! Und lassen Sie mich sofort anmerken, dass ich, der ich in Indiens anderem wahren Glauben, den wir als Businessismus bezeichnen können, erzogen worden war und seine Anhänger verlassen hatte und von ihnen verlassen worden war, mich auf der Stelle geborgen und zu Hause fühlte, nachdem ich das entdeckt hatte. Als ein abtrünniger Businessist begann ich fanatisch rot und

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