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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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einem Umzug in Dacca und von Magiern, die neben Helden einhermarschierten, von Parvati, die zu einem Panzer hochblickte, und Parvati-Augen, die beim Anblick eines Paars gigantischer Greifknie aufleuchteten ... Knie, die sich prächtig durch eine gestärkte, gebügelte Uniform hindurch wölbten, und Parvati rief. «O du! O du ...», und dann kam der unaussprechliche Name, der Name meiner Schuld, der Name von jemandem, der mein Leben hätte führen sollen, wenn nicht in einem Entbindungsheim ein Verbrechen verübt worden wäre. Parvati und Shiva, Shiva und Parvati, durch das göttliche Schicksal ihrer Namen dazu bestimmt, einander zu begegnen, wurden im Augenblick des Siegs miteinander vereint. «Ein Held, Mann!», zischte sie stolz hinter dem Schuppen.«Sie werden ihn zu einem großen Offizier mit allem Drum und Dran machen!» Und was wurde dann aus einer Falte ihres zerlumpten Gewands hervorgezogen? Was wuchs einst prächtig auf dem Haupt eines Helden und schmiegte sich nun an die Brüste einer Zauberin? «Ich bat ihn, und er gab es mir», sagte Parvati-die-Hexe und zeigte mir eine Locke seines Haars.
    Lief ich vor dieser Locke schicksalsträchtigen Haars weg? Floh Saleem aus Furcht vor einer Begegnung mit seinem Alter Ego, das er vor so langer Zeit aus den Ratsversammlungen der Nacht verbannt
hatte, zurück in den Schoß einer Familie, deren Tröstungen dem Kriegshelden verweigert worden waren? War es Hochherzigkeit oder Schuldgefühl? Ich kann es nicht mehr sagen, ich schreibe nur nieder, woran ich mich erinnere, nämlich, dass Parvati-die-Hexe flüsterte: «Vielleicht kommt er, wenn er Zeit hat, und dann sind wir zu dritt!» Und noch ein Satz wurde wiederholt: «Mitternachtskinder, Yaar ... das ist doch etwas, oder etwa nicht?» Parvati-die-Hexe erinnerte mich an Dinge, die ich zu verdrängen versucht hatte, und ich ging fort von ihr, zum Haus von Mustapha Aziz.
    Von meinem letzten kläglichen Kontakt mit den brutalen Vertraulichkeiten des Familienlebens bleiben nur Bruchstücke, doch da alles niedergelegt und anschließend eingelegt werden muss, versuche ich, einen Bericht zusammenzustückeln ... lassen Sie mich zu Beginn festhalten, dass mein Onkel Mustapha in einem geräumigen, anonymen Beamtenbungalow in einem ordentlichen Beamtengarten wohnte, direkt hinter dem Rajpath, im Herzen der Luryens-Stadt. Ich ging über den ehemaligen Kingsway und sog die zahllosen Düfte der Stadt ein, die aus den State Handicraft Emporia und den Auspuffrohren der Autorikschas herauswehten, das Aroma von Banyan- und Deodarbäumen, vermischt mit den geisterhaften Gerüchen längst verschwundener Vizekönige und Mem-Sahibs mit Handschuhen und auch mit den bedeutend schärferen Körpergerüchen aufgeputzter reicher Begums und Flittchen. Hier stand die riesige Anzeigetafel mit den Wahlergebnissen, um die sich (während des ersten Machtkampfs zwischen Indira und Morarji Desai) die Massen gedrängt hatten, die auf die Ergebnisse warteten und begierig fragten: «Ist es ein Junge oder ein Mädchen?» ... zwischen Alt und Neu, zwischen dem India Gate und den Ministerien, bestürmt von Gedanken an entschwundene Reiche (der Moguln und der Briten) und auch an meine eigene Geschichte – denn dies war die Stadt der öffentlichen Ankündigung, der vielköpfigen Monster und einer herabfallenden Hand —, schritt ich resolut aus und stank zum Himmel, wie alles andere, was sich in Sichtweite befand. Und
schließlich, nachdem ich links, Richtung Dupleix Road, abgebogen war, gelangte ich zu einem anonymen Garten mit einer niedrigen Mauer und einer Hecke. In einer Ecke sah ich ein Schild im Wind schaukeln, so wie im Garten von Methwold’s Estate einmal Schilder geblüht hatten; doch erzählte dieses Echo der Vergangenheit eine andere Geschichte. Nicht ZU VERKAUFEN mit seinen fünf ominösen Vokalen und sechs schicksalsträchtigen Konsonanten; die hölzerne Blume im Garten meines Onkels verkündete enigmatisch: Herr Mustapha Aziz und Flie.
    Da ich nicht ahnte, dass das letzte Wort die von meinem Onkel gewohnheitsmäßig benutzte trockene Abkürzung für das gefühlsbefrachtete Substantiv «Familie» war, stürzte das nickende Schild mich in Verwirrung. Nachdem ich jedoch eine kurze Zeit in seinem Haushalt verbracht hatte, erschien es mir völlig passend, denn die Familie von Mustapha Aziz war in der Tat so zerquetscht, so insektengleich, so nichtssagend wie jene mythisch verstümmelte Flie.
    Mit welchen Worten wurde ich begrüßt, als ich ein

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