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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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gehörte es, dass sie zum Schlangengott Takshasa betete, Wasser trank, in das die heilenden Kräfte des Krimukabaums und die von alten Kleidungsstücken, die man in Wasser gekocht hatte, eingegangen waren, und dazu musste sie noch einen Zauberspruch aufsagen: Garudamand, der Adler, trank Gift, doch es hatte keine Macht über ihn; und auf die gleiche Weise habe ich seine Macht aus der Bahn geworfen, so wie man einen Pfeil aus seiner Bahn bringt ) — sie konnte Wunden heilen und Talismane weihen – sie kannte den Sraktya-Zauber und den Baumritus. Und all dies zeigte sie mir in einer Reihe nächtlicher Sondervor-Stellungen
unter den Mauern der Moschee – aber trotzdem war sie nicht glücklich.
    Wie immer muss ich die Verantwortung auf mich nehmen; der Geruch von Trauer, der Parvati-die-Hexe umgab, war mein Werk. Denn sie war fünfundzwanzig Jahre alt und wollte mehr von mir als meine Bereitschaft, ihr Publikum zu sein; Gott weiß, warum, aber sie wollte mich in ihrem Bett – oder, um genau zu sein, sie wollte, dass ich ihr auf dem Stück Sackleinen beischlief, das ihr als Bett in der Hütte diente, die sie mit Schlangenmenschen aus Kerala teilte, drei weiblichen Drillingen, die verwaist waren, ebenso wie sie – ebenso wie ich. Was sie für mich tat: Dank der Macht ihrer Magie begann Haar zu wachsen, wo keins mehr gewachsen war, seit Herr Zagallo zu fest gezogen hatte; ihre Hexenkunst brachte die Geburtsmale auf meinem Gesicht durch heilende Kräuterumschläge zum Verschwinden; selbst meine Beine, so schien es, waren dank ihrer Fürsorge nicht mehr ganz so krumm. (Für mein eines schlechtes Ohr konnte sie jedoch nichts tun; keine Zauberkraft auf Erden ist stark genug, das Vermächtnis der Eltern auszulöschen.) Aber was auch immer sie für mich tat, ich war nicht in der Lage, für sie das zu tun, was sie am meisten wünschte. Denn obwohl wir uns gemeinsam auf der rückwärtigen Seite der Moschee an der Mauer niederließen, zeigte das Mondlicht mir, wie ihr Nachtgesicht sich verwandelte, sich stets in das meiner fernen, entschwundenen Schwester verwandelte ... nein, nicht meiner Schwester ... in das verweste, hässlich entstellte Gesicht von Jamila der Sängerin. Parvati salbte ihren Körper mit Pasten und Ölen, durchtränkt von erotischer Magie, sie kämmte ihr Haar tausendmal mit einem Kamm aus aphrodisischen Hirschknochen, und in meiner Abwesenheit (dessen bin ich mir sicher) muss sie allen möglichen Liebeszauber ausprobiert haben, doch ich war im Bann eines älteren Zaubers und konnte anscheinend nicht erlöst werden. Ich war dazu verdammt, zu sehen, wie die Gesichter der Frauen, die mich liebten, sich verwandelten in die Züge von ... aber Sie wissen ja, wessen
zerfallende Züge erschienen und meine Nasenlöcher mit ihrem unheiligen Gestank erfüllten.
    «Armes Mädchen», seufzt Padma, und ich gebe ihr Recht; doch bis Die Witwe mir Vergangenheit Gegenwart Zukunft entzog, blieb ich unter dem Zauberbann des Äffchens.
    Als Parvati-die-Hexe sich endlich ihr Scheitern eingestand, bekam sie über Nacht einen ausgeprägten, beunruhigenden Schmollmund. Sie schlief in der Hütte der Gummimenschen-Waisen ein, und beim Erwachen waren ihre vollen Lippen unsagbar sinnlich schmollend vorgeschoben. Die verwaisten Drillinge erzählten ihr beunruhigt kichernd, was mit ihrem Gesicht geschehen war; energisch versuchte sie, ihre Gesichtszüge wieder in die richtige Stellung zu bringen, doch weder Muskeln noch Hexerei konnten ihr früheres Aussehen wiederherstellen; schließlich fand Parvati sich mit ihrer Tragödie ab und resignierte, sodass Resham Bibi jedem, der es hören wollte, erzählte: «Das arme Mädchen – ein Gott muss sie angehaucht haben, als sie eine Grimasse schnitt.»
    (In jenem Jahr trugen zufällig alle schicken Damen in den Städten aus erotischem Kalkül genauso einen Ausdruck zur Schau; die hochnäsigen Mannequins in der Eleganza-73-Modenschau liefen alle mit einem Schmollmund über den Laufsteg. In der entsetzlichen Armut des Magierslums befand sich die schmollende Parvati wenigstens in dieser Hinsicht auf der Höhe der Mode.)
    Die Magier verwandten viel Energie auf das Problem, Parvati wieder zum Lächeln zu bringen. Sie opferten einen Teil ihrer Zeit, stellten ihre Arbeit hintan und auch banalere Beschäftigungen, wie Blech- und Papphütten, die im Sturm umgefallen waren, wieder aufzubauen oder Ratten zu töten, und führten ihr zu Gefallen ihre schwierigsten Kunststücke vor, doch der

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