Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
unweigerlich in mich eingesickert sind, sodass ich wünschte, wenn-ich-nur, wenn-ich-nur, und nun, nachdem ich mich bereits mit den Rissen abgefunden hatte, von quälender Unzufriedenheit, Wut, Furcht und Reue überfallen werde.
Aber vor allen anderen Die Witwe.
«Ich sag’s ja!» Padma schlägt sich aufs Knie. «Das sind zu viele, Herr, zu viele.»
Wie sollen wir meine zu vielen Frauen verstehen? Als die mannigfaltigen
Gesichter von Bharat-Mata? Oder sogar als mehr noch ... als der dynamische Aspekt der Maja, als kosmische Energie, die als weibliches Organ dargestellt wird?
Die Maja in ihrem dynamischen Aspekt wird Schakti genannt; vielleicht ist es kein Zufall, dass im Pantheon der Hindus die aktive Kraft eines Gottes bei seiner Königin liegt! Maja-Schakti gebiert Leben, aber sie «hüllt auch das Bewusstsein in seinem Traumnetz ein». Zu viele Frauen: Sind sie alle Erscheinungsformen von Devi, der Göttin – die Schakti ist, die den Büffeldämon erschlug, die den Menschenfresser Mahisha besiegte, die Kali Durga Chandi Chamunda Uma Sati Parvati ist ... und die, wenn sie aktiv ist, rot gefärbt ist?
«Davon weiß ich nichts.» Padma holt mich zur Erde zurück. «Es sind einfach Frauen, das ist alles.»
Als ich von meinem Höhenflug der Phantasie herunterkomme, werde ich daran erinnert, wie wichtig es ist, schnell zu sein; von dem befehlshaberischen Reißen Brechen Krachen angetrieben, gebe ich die Überlegungen auf und beginne.
Und so geschah es; so nahm Parvati ihr Schicksal selbst in die Hand; so brachte eine Lüge von meinen Lippen sie in eine verzweifelte Lage, bis sie eines Abends aus ihrem schäbigen Gewand eine Locke vom Haar eines Helden zog und klangvolle Worte zu sprechen begann.
Von Saleem verschmäht, erinnerte sich Parvati daran, wer einst sein Erzfeind gewesen war; sie nahm einen Bambusstab mit sieben Knoten, an dessen Ende ein improvisierter Haken befestigt war, hockte sich in ihre Hütte und deklamierte; mit Indras Donnerkeil in der rechten und einer Haarlocke in der linken Hand, berief sie ihn zu sich. Parvati rief nach Shiva, und ob Sie es glauben oder nicht, Shiva kam.
Von Anfang an gab es Knie und eine Nase, eine Nase und Knie, aber im Verlauf dieser ganzen Schilderung habe ich ihn ständig in den Hintergrund gedrängt (wie ich ihn einst aus dem Rat der
Kinder verbannte). Er lässt sich jedoch nicht länger verheimlichen, denn eines Morgens im Mai 1974 – ist es bloß mein lückenhaftes Gedächtnis, oder habe ich Recht, wenn ich glaube, dass es der 18. war, vielleicht genau der Augenblick, in dem die Wüste von Rajasthan von Indiens erster Kernexplosion erschüttert wurde?, platzte Shiva wirklich genau zu dem Zeitpunkt in mein Leben, in dem Indien ohne vorherige Warnung ins Atomzeitalter eintrat? – kam er in den Slum der Magier. Mit Uniform, Orden-und-Epauletten, Major mittlerweile, stieg Shiva von einem Armeemotorrad, und selbst durch den sittsamen Khaki seiner Armeehose konnte man leicht die phänomenalen Zwillingswölbungen seiner todbringenden Knie sehen ... Indiens höchstdekorierter Kriegsheld, doch einst führte er in den Seitengassen von Bombay eine Bande von Unterweltlern an; einst, bevor er die sanktionierte Gewalt des Krieges entdeckte, wurden Prostituierte erdrosselt in der Gosse gefunden (ich weiß, ich weiß – kein Beweis); nun Major Shiva, aber auch Wee Willie Winkies Junge, der sich noch an die Worte längst verklungener Lieder erinnerte, «Good Night, Ladys» hallte ihm gelegentlich noch in den Ohren.
Es liegt eine gewisse Ironie hierin, die man nicht einfach übergehen darf: Denn war nicht Shiva aufgestiegen, als Saleem fiel? Wer war jetzt der Slumbewohner, und wer sah aus beherrschender Höhe herab? Für die Neuerfindung von Lebensläufen gibt es nichts Besseres als einen Krieg ... Auf jeden Fall kam an jenem Tag, der höchstwahrscheinlich der 18. Mai war, Major Shiva ins Magiergetto und schritt durch die schrecklichen Straßen des Slums mit einem seltsamen Gesichtsausdruck; es vereinte sich darin die unendliche Verachtung, die der, welcher soeben erst zu Ruhm und Ehren aufgestiegen ist, der Armut gegenüber an den Tag legt, mit etwas Mysteriöserem: Denn Major Shiva, von den Zaubersprüchen Parvatis-der-Hexe zu unserer bescheidenen Bleibe gelockt, kann nicht gewusst haben, von welcher Macht er getrieben wurde.
Das Folgende ist eine Rekonstruktion des neuesten Werdegangs
von Major Shiva; ich setzte die Geschichte aus den Berichten Parvatis zusammen,
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