Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
doch, dass ich das nie könnte!» Darauf schnappt sich Picture Singh die Kobra direkt unterhalb des Kopfes, reißt seinen Mund weit weit weit auf und stellt dabei ein heroisches Wrack von Zähnen und Gaumen zur Schau. Mit dem linken Auge zwinkert er dem jungen Mann von der Kongresspartei zu und steckt den züngelnden Schlangenkopf in seine abscheulich gähnende Öffnung! Eine ganze Minute verstreicht, ehe Picture Singh die Kobra in den Korb zurücklegt. Sehr freundlich sagt er zu dem jungen Mann: «Sehen Sie, Hauptmann, hier liegt der Kern der Sache: Manche Menschen sind besser, andere schlechter. Aber wenn Sie anderer Ansicht sind, will ich Ihnen Ihren Glauben nicht nehmen.»
Als er diese Szene beobachtete, lernte Saleem, dass Picture Singh und die Magier Menschen waren, die die Realität fest im Griff hatten; so fest hielten sie sie gepackt, dass sie sie im Dienst ihrer Künste drehen und wenden konnten, wie sie wollten, doch nie vergaßen sie, was sie in Wirklichkeit war.
Die Probleme des Magiergettos waren die Probleme der kommunistischen Bewegung in Indien. Innerhalb der Grenzen der Kolonie konnte man die vielen Spaltungen und Zwistigkeiten, die die
Partei im ganzen Land erschütterten, en miniature wiederfinden. Picture Singh, beeile ich mich hinzuzufügen, war darüber erhaben; er, der Patriarch des Gettos, besaß einen Schirm, dessen Schatten die Eintracht unter den hadernden Fraktionen wiederherstellte. Doch die Streitigkeiten, über die unter dem Schirmdach des Schlangenbeschwörers verhandelt wurde, arteten immer mehr aus, als die eigentlichen Gaukler, die, die Kaninchen aus Hüten zogen, sich solidarisch hinter Danges offizielle moskautreue CPI stellten, die Frau Gandhi während des ganzen Ausnahmezustands unterstützte, während die Schlangenmenschen weiter nach links und zu den schrägen Verworrenheiten des chinesisch orientierten Flügels tendierten. Feuer- und Schwertschlucker priesen die Guerillataktik der Naxaliten-Bewegung, während Hypnotiseure und Zauberer, Die-über-glühende-Kohlen-schritten, für Namboodiripads Manifest (er war weder Moskowiter noch Pekinese) eintraten und die Gewalttätigkeit der Naxaliten beklagten. Bei den Falschspielern gab es trotzkistische Tendenzen und bei den gemäßigten Mitgliedern der Bauchredner-Sektion sogar eine Bewegung, die Kommunismus-durch-Wahlen forderte. Ich war in ein Milieu gekommen, in dem religiöse und regionalistische Engstirnigkeit zwar vollkommen fehlte, in dem jedoch unsere uralte nationale Begabung, sich durch Teilung zu vermehren, ein neues Ventil gefunden hatte. Bekümmert erzählte mir Picture Singh, dass es während der allgemeinen Wahlen im Jahre 1971 anlässlich eines Streits zwischen einem naxalitischen Feuerschlucker und einem moskautreuen Zauberer zu einem bizarren Mord kam. Erzürnt über die Ansichten des Ersteren, hatte der Zauberkünstler versucht, eine Pistole aus seinem Zauberhut zu ziehen, doch kaum hatte er die Waffe zum Vorschein gebracht, als der Anhänger Ho Chi Minhs seinen Widersacher mit einer schrecklichen lodernden Flamme so versengte, dass er starb.
Unter seinem Schirm sprach Picture Singh von einem Sozialismus, der nicht auf ausländischen Einflüssen beruhte. «Hört zu, Hauptmänner», sagte er zu Bauchrednern und Puppenspielern, die
miteinander auf Kriegsfuß standen, «geht ihr etwa in eure Dörfer und redet von Stalins und Maos? Macht es Biharis oder Tamilen-Bauern etwas aus, dass Trotzki ermordet wurde?» Die Chaya seines magischen Schirms beruhigte auch die ungezügeltsten Hexenmeister und ließ mich zu der Überzeugung gelangen, dass der Schlangenbeschwörer Picture Singh in nicht allzu ferner Zeit in die Fußstapfen Mian Abdullahs treten würde (lang, lang ist’s her), dass er wie der legendäre Kolibri das Getto verlassen und mit schierer Willenskraft die Zukunft gestalten würde und dass er sich, anders als der Held meines Großvaters, nicht aufhalten ließe, bis er und seine Sache den Sieg davongetragen hätten ... aber, aber. Immer ein Aber. Was geschah, geschah. Das wissen wir alle.
Bevor ich mich wieder meiner Lebensgeschichte zuwende, möchte ich gern kundtun, dass es Picture Singh war, der mir anhand eines Zeitungsfotos von Frau Gandhi klar machte, dass die korrupte«schwarze» Wirtschaft des Landes ebensolche Ausmaße angenommen hatte wie die offizielle «weiße». Ihr Haar, in der Mitte gescheitelt, war auf der einen Seite schneeweiß und auf der anderen schwarz wie die Nacht, sodass sie, je
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