Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

nachdem, welche Seite sie präsentierte, entweder einem Wiesel oder einem Hermelin glich. Die Wiederkehr des Mittelscheitels in der Geschichte und die Wirtschaft als Gegenstück zur Frisur einer Ministerpräsidentin ... diese wichtigen Erkenntnisse verdanke ich dem Bezauberndsten Mann der Welt. Es war Picture Singh, der mir erzählte, dass Mishra, der Eisenbahnminister, gleichzeitig der offiziell ernannte Minister für Bestechung war, durch den die größten Abschlüsse in der schwarzen Wirtschaft getätigt wurden und der auch dafür sorgte, dass die richtigen Minister und Beamten geschmiert wurden. Ohne Picture Singh hätte ich vielleicht nie etwas von der Wahlschiebung bei den Bundeswahlen in Kaschmir erfahren. Die Demokratie liebte er jedoch nicht: «Gott verdamme dieses Wahlspektakel, Hauptmann», sagte er zu mir. «Jedes Mal, wenn das an der Reihe ist, passiert was Schlimmes, und unsere Landsleute benehmen sich wie die Clowns.»
Ich, in meinem Dürsten nach Revolution, bestritt mitnichten die Meinung meines Lehrmeisters.
     
    Natürlich gab es auch ein paar Ausnahmen von den Regeln des Gettos: Ein oder zwei Zauberer behielten ihren Hindu-Glauben bei und schlossen sich der sektiererischen Hindu-Partei Jana Sangh oder den berüchtigten Ananda-Marg-Extremisten an; bei den Jongleuren gab es sogar Swatantra-Wähler. Im nichtpolitischen Sinne war die alte Dame Resham Bibi eines der wenigen Mitglieder der Gemeinschaft, die unheilbare Phantasten blieben und (beispielsweise) dem Aberglauben huldigten, dem zufolge Frauen nicht auf Mangobäume klettern durften, weil ein Mangobaum, der einmal das Gewicht einer Frau getragen hatte, danach immer bittere Früchte tragen würde ... und da war der seltsame Fakir namens Chishti Khan, dessen Gesicht so glatt und schimmernd war, dass niemand wusste, ob er neunzehn oder neunzig war, und der seine Hütte mit einer sagenhaften Schöpfung aus Bambusstöcken und Fetzen leuchtend bunten Papiers umgeben hatte, sodass seine Behausung aussah wie eine verkleinerte vielfarbige Ausgabe des in der Nähe gelegenen Roten Forts. Erst wenn man durch das Tor ging, das an den Eingang zu einer Burg erinnerte, erkannte man, dass sich hinter der übertrieben akkuraten Fassade mit Zinnen und Schanzen aus Bambus und Papier ein Elendsquartier aus Blech und Pappe wie alle anderen verbarg. Chishti Khan hatte dadurch, dass er seine Sachkenntnis in puncto Zaubern sein wirkliches Leben beeinflussen ließ, den einen unverzeihlichen Fauxpas begangen; er war im Getto nicht beliebt. Die Magier hielten sich von ihm fern, damit sie von seinen Träumen nicht krank gemacht wurden.
    Deshalb werden Sie verstehen, warum Parvati-die-Hexe, die Besitzerin wahrhaft wundersamer Kräfte, sie ihr Leben lang geheim gehalten hatte; das Geheimnis der Gaben, die ihr die Mitternacht verliehen hatte, wäre ihr von einer Gemeinschaft, die stets die Möglichkeit des Wunders geleugnet hatte, nicht leicht verziehen worden.
     
    Auf der rückwärtigen Seite der Freitagsmoschee, wo die Magier einen nicht sehen konnten und Gefahr nur von Leuten drohte, die im Abfall kramten, nach herrenlosen Kisten fahndeten und nach Wellblech suchten, zeigte mir Parvati-die-Hexe, scharf wie Mostrich, was sie konnte. In einem bescheidenen Shalwar-kameez, zusammengestoppelt aus den Überresten von einem Dutzend anderer, gab die Mitternachtszauberin mit dem Schwung und der Begeisterung eines Kindes eine Vorstellung für mich. Mit untertassengroßen Augen, einem Pferdeschwanz, dick wie ein Tau, schön geschwungenen vollen roten Lippen ... niemals hätte ich ihr so lange widerstehen können, wäre da nicht dieses Gesicht gewesen, die kranken verwesenden Augen Nase Lippen von ... Anfangs schienen Parvatis Fähigkeiten keine Grenzen gesetzt zu sein. (Aber es gab welche.) Nun also: Wurden Dämonen heraufbeschworen? Tauchten Dschinns auf und boten Reichtümer und Weltreisen auf fliegenden Teppichen an? Wurden Frösche in Prinzen verwandelt, und wurden Steine zu Juwelen? Wurden Seelen verkauft, und erstanden Tote auf? Nichts dergleichen: Die Zauberei, die Parvati-die-Hexe für mich vollbrachte — die einzige Zauberei, die auszuüben sie je bereit war —, gehörte zur weißen Magie. Es war, als ob das «Geheime Buch» der Brahmanen, der Atharvaveda, ihr alle seine Geheimnisse offenbart hätte; sie konnte Krankheiten heilen und gegen Gifte wirken (um das zu beweisen, ließ sie sich von Schlangen beißen und bekämpfte ihr Gift mit einem seltsamen Ritual; dazu