Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Zeit, die der Realität so schweren Schaden zufügte, dass es nie wieder jemandem gelang, sie zusammenzusetzen.
Es war der wahre Urenkel seines Urgroßvaters, aber die Elephantiasis befiel seine Ohren und nicht seine Nase – denn er war zugleich der wahre Sohn von Shiva-und-Parvati; er war der elefantenköpfige Ganesch.
Er wurde mit Ohren geboren, die so ausladend flatterten, dass sie die Schüsse in Bihar und die Schreie der Hafenarbeiter in Bombay, die mit dem Lathiknüppel geprügelt wurden, gehört haben müssen ... ein Kind, das zu viel hörte und deshalb niemals sprach, stumm gemacht durch ein Übermaß an Geräuschen, sodass ich ihn von damals bis heute, vom Slum bis zur Picklesfabrik nie ein einziges Wort habe sagen hören.
Er besaß einen Nabel, der es vorzog, hervorzustehen, anstatt sich hineinzuziehen, sodass Picture Singh entsetzt rief. «Sein Bimbi, Hauptmann! Sieh mal, sein Bimbi!», und nahm vom ersten Tag an huldvoll unsere Ehrfurchtsbezeigungen entgegen.
Er war ein so ernsthaftes, artiges Kind und weigerte sich so entschieden, zu weinen oder zu wimmern, dass er das Herz seines
Adoptivvaters im Sturm eroberte; dieser hörte auf, hysterisch über die grotesken Ohren zu lachen, und wiegte das stille Kind zärtlich in den Armen.
Ein Kind, das ein Lied hörte, während es in den Armen gewiegt wurde, ein Lied, gesungen im historischen Tonfall einer in Ungnade gefallenen Ayah: «Alles, was du sein willst, kannst du sein; du kannst sein, was immer du willst.»
Aber nun, da ich meinem flatterohrigen stillen Sohn das Leben geschenkt habe, müssen Fragen nach jener anderen Geburt beantwortet werden, die gleichzeitig stattfand. Unangenehme, peinliche Fragen: Tröpfelte Saleems Traum von der Rettung der Nation durch das osmotische Gewebe der Geschichte in die Gedanken der Ministerpräsidentin höchstpersönlich? Wurde mein lebenslanger Glaube, der Staat und ich seien gleichzusetzen, im Kopf der Madam in das in jenen Tagen berühmte Schlagwort umgewandelt: Indien ist Indira, und Indira ist Indien? Strebten wir beide danach, die zentrale Rolle zu spielen – wurde sie von einer Gier nach Bedeutung erfasst, die so stark war wie die meine – und war das, war das der Grund, weshalb ...?
Der Einfluss von Frisuren auf den Verlauf der Geschichte: Das ist eine weitere kitzlige Sache. Hätte William Methwold keinen Mittelscheitel gehabt, wäre ich heute vielleicht nicht hier, und hätte die Mutter der Nation einheitlich gefärbte Haare gehabt, so hätte der Notstand, den sie ausrief, womöglich keine dunklere Seite gehabt. Aber sie hatte weißes Haar auf der einen und schwarzes auf der anderen Seite; auch der Notstand hatte eine weiße Seite – eine öffentliche, sichtbare, dokumentierte, mit der sich Historiker befassen — und eine schwarze, heimliche, makabre Seite, die verschwiegen wurde und mit der wir uns daher befassen müssen.
Indira Gandhi wurde im November 1917 als Tochter von Kamala und Jawaharlal Nehru geboren. Ihr zweiter Vorname war Priyadarshini. Mit dem «Mahatma» M. K. Gandhi war sie nicht verwandt; ihr Familienname war das Vermächtnis ihrer Eheschließung im
Jahre 1942 mit einem gewissen Feroze Gandhi, der als «Schwiegersohn der Nation» bekannt wurde. Sie hatten zwei Söhne, Rajiv und Sanjay, doch 1949 zog sie wieder ins Haus ihres Vaters und wurde offiziell die Dame des Hauses. Feroze unternahm einen Versuch, ebenfalls dort zu leben, der jedoch fehlschlug. Er wurde ein heftiger Kritiker der Regierung Nehru, deckte den Mundhra-Skandal auf und erzwang den Rücktritt des damaligen Finanzministers T. T. Krishnamachari –«T.T.K.s» höchstpersönlich. Feroze Gandhi starb 1960 im Alter von siebenundvierzig Jahren an einem Herzanfall. Sanjay Gandhi und seine Frau Maneka, ein ehemaliges Fotomodell, taten sich in der Zeit des Notstands hervor. Die Sanjay-Jugendbewegung erwies sich als besonders tüchtig während der Sterilisierungskampagne.
Ich habe diese etwas vereinfachte Zusammenfassung hinzugefügt, falls es Ihnen noch nicht klar geworden sein sollte, dass die Ministerpräsidentin Indiens anno 1975 seit fünfzehn Jahren Witwe war.
Ja, Padma, Mutter Indira hatte es wirklich auf mich abgesehen.
Mitternacht
Nein! – Doch, ich muss.
Ich will es nicht erzählen! – Aber ich habe geschworen, alles zu erzählen. — Nein, ich widerrufe, das nicht, bestimmt lässt man manches besser aus ...? – Das ist nicht stichhaltig; man muss die Dinge nehmen, wie sie sind! – Aber sicher nichts
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