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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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in die Hütte zurückkehrte, umklammerte sie ein kleines Päckchen mit grünem Pulver, das in Zeitungspapier gewickelt und mit einer blassrosa Schnur zusammengebunden war. Sie erzählte mir, dass dies ein Präparat von solcher Kraft sei, dass es sogar einen Stein zum Schreien bringen würde. Als sie dem Kind die Medizin eingab, begannen sich seine Wangen aufzublähen, als habe es den Mund voll; die lang unterdrückten Geräusche seiner Säuglingszeit stiegen hinter seinen Lippen hoch, und wütend presste es den Mund fest zusammen. Man konnte sehen, dass der kleine Junge dem Ersticken nahe war, als er versuchte, den sturzbachähnlichen Auswurf zurückgedrängter Töne hinunterzuschlucken, den das grüne Pulver aufgewühlt hatte; und da erkannten wir, dass wir es mit einer unerbittlichen Willenskraft zu tun hatten, die ihresgleichen suchte. Nach einer Stunde, während der mein Sohn erst safrangelb, dann gelbgrün und schließlich grasgrün wurde, hielt ich es nicht mehr aus und kläffte: «Frau, wenn der kleine Kerl unbedingt still bleiben will, brauchen wir ihn deshalb nicht umzubringen!» Ich hob Aadam hoch, um ihn zu wiegen, und spürte, wie sein kleiner
Körper starr wurde; Kniegelenke Ellbogen Hals füllten sich mit dem zurückgehaltenen Tumult nicht ausgesprochener Laute, und endlich gab Parvati nach und bereitete ein Gegenmittel, für das sie Pfeilwurz und Kamille in einem Blechnapf vermengte, während sie verhalten merkwürdige Verwünschungen murmelte. Danach versuchte nie wieder jemand, Aadam Sinai zu etwas zu zwingen, was er nicht wollte; wir sahen ihm zu, wie er gegen die Tuberkulose ankämpfte, und versuchten uns mit dem Gedanken zu beruhigen, dass ein so stählerner Wille sich gewiss nicht von einer bloßen Krankheit besiegen ließe.
    In jenen letzten Tagen nagten auch die inneren Motten der Verzweiflung an meiner Frau Laylah oder Parvati, denn wenn sie in der Einsamkeit unserer Ruhestunden zu mir kam, um Trost oder Wärme zu finden, sah ich in ihren Zügen immer noch die entsetzlich zerfallene Physiognomie Jamilas der Sängerin; und obwohl ich Parvati das Geheimnis beichtete und ihr offenbarte, was es mit der Erscheinung für eine Bewandtnis hatte, obwohl ich sie tröstete, indem ich darauf hinwies, dass das Gespenst, wenn es weiterhin so rasch verfiel, über kurz oder lang ganz auseinander fallen würde, sagte sie mir schmerzerfüllt, dass Spucknäpfe und Krieg meinen Verstand aufgeweicht hätten, und verzweifelte an ihrer Ehe, die, wie nun herauskam, nie vollzogen werden würde; allmählich, ganz allmählich erschien auf ihren Lippen das ominöse Schmollen ihres Kummers ... doch was konnte ich tun? Welchen Trost konnte ich bieten – ich, Saleem Rotznase, der verarmt war, seit meine Familie mir ihren Schutz entzogen hatte, der ich mich dafür entschieden hatte (wenn es überhaupt eine Entscheidung war), von meinem Geruchssinn zu leben, mir jeden Tag ein paar Paisa zu verdienen, indem ich herausschnüffelte, was die Leute am Tag vorher gegessen hatten und wer von ihnen verliebt war; welchen Trost konnte ich ihr geben, wenn mich bereits die kalte Hand jener lauernden Mitternacht gepackt hatte und ich das Ende in der Luft riechen konnte?
    Saleems Nase (Sie können es nicht vergessen haben) konnte eigenartigere Dinge als Pferdemist riechen. Die Düfte der Gefühle und Gedanken, der Geruch der Beschaffenheit von Dingen: All das wurde von mir mit Leichtigkeit herausgerochen. Als die Verfassung geändert wurde und die Ministerpräsidentin damit nahezu unumschränkte Macht erhielt, roch ich die Geister früherer Reiche in der Luft ... in jener Stadt, in der die Erscheinungen von Sklavenkönigen und Moguln umgingen, von Aurangzeb dem Gnadenlosen und den letzten, rosahäutigen Eroberern, sog ich wieder einmal das scharfe Aroma des Despotismus ein. Es roch wie brennende, ölgetränkte Lumpen.
    Aber selbst Leute mit mangelndem Geruchssinn hätten dahinter kommen können, dass im Winter 1975/76 etwas faul in der Hauptstadt war; was mich alarmierte, war ein eigenartigerer, persönlicherer Gestank: ein Hauch persönlicher Gefahr, in dem ich ein Paar verräterischer, Vergeltung suchender Knie ausmachte ... meine erste Vorahnung, dass ein uralter Konflikt, der begann, als eine liebestolle Jungfrau Namensschildchen vertauschte, binnen kurzem in einer Orgie von Verrat und Schnippeleien enden sollte.
    Vielleicht hätte ich fliehen sollen, wenn ich schon so ein warnendes Prickeln in der Nase hatte – von einer Nase

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