Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
alarmiert, hätte ich Fersengeld geben können. Doch es gab praktische Einwände: Wo hätte ich hingehen sollen? Und wie schnell hätte ich vorankommen können, nun, da ich mit Frau und Sohn belastet war? Auch darf man nicht vergessen, dass ich schon einmal floh, und Sie wissen, wo ich landete: in den Sundarbans, dem Dschungel der Sinnestäuschung und der Vergeltung, dem ich nur um Haaresbreite entkam! ... Wie auch immer, ich lief jedenfalls nicht weg.
    Wahrscheinlich spielte es gar keine Rolle; Shiva – unversöhnlich, verräterisch, mein Feind von Geburt an – hätte mich am Ende gefunden. Denn wenn eine Nase auch einzigartig ausgerüstet ist, um etwas herauszuschnüffeln, kann man, wenn es ans Handeln geht, die Vorteile eines Paars greifender, würgender Knie nicht leugnen.
    Ich werde mir eine letzte, paradoxe Beobachtung zum Thema gestatten: Wenn ich, wie ich glaube, im Haus der klagenden Frauen die Antwort auf die Frage nach dem Sinn erhielt, die mich mein Leben lang quälte, dann hätte ich mir, indem ich mich vor jenem Palast der Vernichtung in Sicherheit gebracht hätte, diese kostbarste aller Entdeckungen vorenthalten. Um es etwas philosophischer auszudrücken: Jede Wolke hat einen Silberstreif:
    Saleem-und-Shiva, Nase-und-Knie ... wir teilten nur drei Dinge: den Augenblick unserer Geburt (und seine Folgen), die Schuld des Verrats und unseren Sohn Aadam, unsere Synthese, das ernste Kind mit den alles hörenden Ohren, das nie lächelte. Aadam Sinai war in vieler Hinsicht das genaue Gegenteil von Saleem. Ich wuchs anfangs mit Schwindel erregender Geschwindigkeit; Aadam, der mit den Schlangen der Krankheit rang, wuchs fast gar nicht. Saleem hatte von Anfang an ein gewinnendes Lächeln; Aadam besaß mehr Würde und behielt sein Grinsen für sich. Während Saleem seinen Willen der gemeinsamen Tyrannei von Familie und Schicksal unterordnete, focht Aadam grimmig und weigerte sich, selbst dem Druck grünen Pulvers nachzugeben. Und während Saleem so entschlossen gewesen war, das Universum in sich aufzunehmen, dass er eine Zeit lang nicht hatte blinzeln können, zog Aadam es vor, seine Augen fest geschlossen zu halten ... doch wenn er dann und wann geruhte, sie aufzuschlagen, fiel mir ihre Farbe auf, und die war blau. Eisblau, das Blau der Wiederholung, das schicksalsträchtige Blau des kaschmirischen Himmels ... aber es besteht keine Notwendigkeit, weiter auszuholen.
    Wir, die Kinder der Unabhängigkeit, stürzten uns ungestüm und zu schnell in unsere Zukunft; er, im Notstand geboren, wird, ist schon vorsichtiger und wartet den rechten Augenblick ab; aber wenn er handelt, wird man ihm nicht widerstehen können. Er ist jetzt schon stärker, härter, resoluter als ich: Wenn er schläft, sind seine Augäpfel unter den Lidern unbeweglich. Aadam Sinai, Kind von Knien-und-Nase, gibt sich (soweit ich es beurteilen kann) keinen
Träumen hin. Wie viel bekamen diese Segelohren mit, die gelegentlich vor der Hitze ihres Wissens zu glühen schienen? Wenn er hätte reden können, hätte er mich dann vor Verrat und Bulldozern gewarnt? In einem Land, das von der Zwillingsmasse der Geräusche und Gerüche beherrscht wird, hätten wir beide ein perfektes Team sein können; aber mein kleiner Sohn lehnte es ab zu sprechen, und ich versäumte es, dem Diktat meiner Nase zu folgen.
    «Arre baap», ruft Padma, «erzähl einfach, was passiert ist, Herr! Was ist denn so erstaunlich daran, wenn ein Baby keine Konversation macht?»
    Und wieder die Spaltung in mir: Ich kann nicht. – Du musst. – Ja.
     
    Im April 1976 war ich immer noch in der Kolonie oder dem Getto der Magier; mein Sohn Aadam litt immer noch an seiner langwierigen Krankheit, die auf keine Behandlung anzusprechen schien. Ich war erfüllt von Vorahnungen (und von Gedanken an Flucht), aber wenn irgendein Mensch der Grund für mein Verbleiben im Getto war, dann war das Picture Singh.
    Padma: Saleem verband sich auf Gedeih und Verderb mit den Magiern Delhis, einerseits aus einem Gefühl für Anstand – einem masochistischen Glauben, der ihm suggerierte, bei seinem verspäteten Abstieg in die Armut handle es sich um einen Akt der Redlichkeit (ich nahm aus dem Haus meines Onkels nicht mehr mit als zwei Hemden, weiß, zwei Hosen, ebenfalls weiß, ein T-Shirt, bedruckt mit rosa Gitarren, und Schuhe, ein Paar, schwarz); andererseits kam ich aus Loyalität, da ich durch Knoten der Dankbarkeit an meine Retterin, Parvati-die-Hexe, gebunden war; doch ich blieb – wo ich als

Weitere Kostenlose Bücher