Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Sinne zwangen sie also Frau Gandhi zu einem Vorstoß. Und als die Nacht sich gegen Mitternacht verfinsterte, denn nichts geschieht je zu einer anderen Zeit, begannen Drillinge zu kreischen, es kommt es kommt es kommt, und anderswo gebar die Ministerpräsidentin ebenfalls ein Kind ... in der Hütte im Getto, neben der ich mit untergeschlagenen Beinen verhungernd saß, kam endlich mein Sohn zur Welt, der Kopf ist draußen, kreischten die Drillinge, während Angehörige der Central Reserve Police die Führer des Janata Morcha verhafteten, einschließlich der unwahrscheinlich alten und beinah mythischen Gestalten Morarji Desai und J. P. Narayan, press es raus press es raus, und im Herzen dieser schrecklichen Mitternacht wurde, während in meinen Ohren das Ticktack pochte, ein Kind geboren, tatsächlich ein Zehn-Chip-Mordskerl, der am Ende so leicht herauspurzelte, dass man überhaupt nicht begreifen konnte, warum das Ganze eigentlich so schwierig gewesen war. Parvati jaulte ein letztes Mal erbärmlich auf, und schon schoss er heraus, während überall in Indien Polizisten Leute verhafteten, alle Oppositionsführer außer Mitgliedern der moskaufreundlichen kommunistischen Partei, und außerdem Lehrer Rechtsanwälte Dichter Journalisten Gewerkschafter, praktisch jeden, der je den Fehler begangen hatte, bei einer Rede der Madam zu niesen, und als die drei Schlangenmenschen den Säugling gewaschen und in einen alten Sari gewickelt und vor die Hütte gebracht hatten, damit sein Vater ihn sehen konnte, hörte man in genau diesem Augenblick zum ersten Mal die Worte «Notstand» und «Aufhebung der bürgerlichen
Rechte» und «Pressezensur» und «Panzereinheiten in Alarmbereitschaft»und «Verhaftung subversiver Elemente»; etwas endete, etwas wurde geboren, und genau in dem Augenblick, als das neue Indien geboren wurde und eine anhaltende Mitternacht begann, die erst nach zwei langen Jahren enden sollte, kam mein Sohn, das Kind des wiedererweckten Ticktack, auf die Welt.
Und es gibt noch mehr: Denn als Saleem Sinai im trüben Halbdunkel jener endlos verlängerten Mitternacht seinen Sohn zum ersten Mal sah, brach er in hilfloses Gelächter aus; sein Geist war vom Hunger gepeinigt, ja, aber auch von dem Wissen, dass sein erbarmungsloses Geschick sich wieder einmal einen grotesken kleinen Scherz geleistet hatte. Und obwohl Picture Singh, empört über mein Gelächter, das aufgrund meines geschwächten Zustands wie das Kichern eines Schulmädchens klang, wiederholt rief: «Komm schon, Hauptmann! Spiel jetzt nicht verrückt! Es ist ein Sohn, Hauptmann, sei glücklich!», nahm Saleem Sinai das Ereignis auch weiterhin nur insofern zur Kenntnis, als er hysterisch über das Schicksal kicherte, denn der Junge, der Säugling, der Junge-mein-Sohn Aadam, Aadam Sinai, war vollkommen geformt – das heißt, bis auf die Ohren. Zu beiden Seiten seines Kopfes flatterten Auswüchse wie Segel, Ohren, die so ungeheuer riesig waren, dass die Drillinge nachher bekannten, sie hätten, als sein Kopf herauskam, einen schlimmen Augenblick lang geglaubt, es sei der Kopf eines winzigen Elefanten.
«Hauptmann, Saleem Hauptmann», bettelte Picture Singh, «sei jetzt nett! Ohren sind doch kein Grund, durchzudrehen!»
Es war einmal ein kleiner Junge, der wurde in Alt-Delhi geboren ... Nein, so geht es nicht, ich kann mich um das Datum nicht herummogeln: Aadam Sinai kam am 25. Juni 1975 in einem in nächtlichem Schatten liegenden Slum zur Welt. Und die Zeit? Die Zeit spielt auch eine Rolle. Wie ich schon sagte: nachts. Nein, man muss schon genauer sein ... Schlag Mitternacht, um die Wahrheit
zu sagen. Uhrzeiger neigten sich einander zu. Oh, sprich’s nur aus, sprich’s nur aus: Genau in dem Augenblick, in dem Indien in den Notstand gelangte, kam er an. Schweres Atmen war zu hören; und im ganzen Land herrschte Schweigen und Furcht. Und dank der verborgenen Willkürherrschaft dieser nichts ahnenden Stunde war er auf geheimnisvolle Weise an die Geschichte gefesselt, waren seine Geschicke unlösbar mit denen seines Landes verkettet worden. Seine Ankunft wurde nicht prophezeit und nicht gefeiert; keine Ministerpräsidenten schrieben ihm Briefe, doch nichtsdestotrotz, als meine Zeit der Verknüpfung endete, begann die seine. Er hatte natürlich in der ganzen Angelegenheit nichts zu sagen; schließlich konnte er sich zu der Zeit noch nicht einmal selbst die Nase putzen.
Er war das Kind eines Vaters, der nicht sein Vater war, aber auch das Kind einer
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