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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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von den wispernden Wänden und von Verrat und Schnippschnapp und den Frauen mit den blauen Flecken auf der Brust? – Gerade das. – Aber wie kann ich, sehen Sie mich doch an, ich reiße mich in Stücke, kann noch nicht einmal mit mir selbst übereinstimmen, rede, argumentiere wie ein Verrückter, Risse tun sich auf, das Gedächtnis lässt nach, ja, das Gedächtnis stürzt in Abgründe und wird vom Dunkel verschluckt, nur Bruchstücke bleiben, keines davon ergibt mehr einen Sinn! – Aber ich darf mir kein Urteil anmaßen; muss einfach (nachdem ich einmal angefangen habe) bis zum Ende fortfahren; Sinn und Unsinn zu bewerten steht mir nicht mehr zu (und stand mir vielleicht auch nie zu). – Aber das Entsetzliche daran, ich kann nicht will nicht darf nicht will nicht kann nicht! – Hör auf, fang an. – Nein! – Doch.
    Mit dem Traum also? Ich könnte es als Traum erzählen. Ja, vielleicht als Albtraum: grün und schwarz das Haar der Witwe und zupackende Hand und Kinder mmmff und kleine Bälle und eins nach dem anderen und entzweigerissen und kleine Bälle fliegen fliegen grün und schwarz ihre Hand ist grün ihre Nägel sind schwarz so schwarz. – Keine Träume. Hier ist weder die Zeit noch der Ort dafür. Tatsachen, so wie sie erinnert werden. Nach bestem Wissen und Gewissen. So wie es war: fang an! – Keine Wahl? – Keine; wann hat es je eine gegeben? Es gibt Erfordernisse und logische Konsequenzen
und Unvermeidlichkeiten und Wiederholungen; es gibt Dinge, die einem angetan werden, und Zufälle und Knüppelschläge des Schicksals; wann hat es je eine Wahl gegeben? Wann das Recht, etwas zu wählen? Wann eine frei getroffene Entscheidung, dies oder jenes oder etwas anderes zu sein? Keine Wahl; fang an! – Ja.
    Hören Sie zu:
    Endlose Nacht, Tage Wochen Monate ohne Sonne, oder besser (denn es ist wichtig, genau zu sein), unter einer Sonne, so kalt wie ein unter fließendem Wasser abgespülter Teller, einer Sonne, die uns in wahnsinnigem Mitternachtslicht badet; ich rede vom Winter 1975/76. In dem Winter: Dunkelheit und auch Tuberkulose.
    Einst kämpfte ich in einem blauen Zimmer mit Blick aufs Meer unter dem deutenden Finger eines Fischers gegen Typhus an und wurde durch Schlangengift gerettet; im dynastischen Netz der Wiederholung gefangen, weil ich ihn als meinen Sohn anerkannt hatte, musste nun auch unser Aadam Sinai seine ersten Monate mit dem Kampf gegen die unsichtbaren Schlangen einer Krankheit verbringen. Die Schlangen der Tuberkulose ringelten sich um seinen Hals, sodass er nach Luft schnappen musste ... aber er war ein Kind der Ohren und des Schweigens, und wenn er spuckte, gab es keinen Laut, wenn er keuchte, krächzte es in seiner Kehle nicht. Kurzum, mein Sohn wurde krank, und obwohl seine Mutter, Parvati oder Laylah, nach ihren Zauberkräutern suchte, obwohl man ihm ständig Kräuteraufgüsse einflößte, die mit abgekochtem Wasser zubereitet wurden, ließen die geisterähnlichen Würmer der Tuberkulose sich nicht vertreiben. Ich vermutete von Anfang an etwas dunkel Metaphorisches in dieser Krankheit – weil ich überzeugt war, dass unser privater Notstand in jenen Mitternachtsmonaten, als die Ära meiner Verknüpfung mit der Geschichte sich mit der seinen überschnitt, nicht ohne Zusammenhang mit der schwereren makrokosmischen Krankheit war, unter deren Einfluss die Sonne so bleich und kränklich geworden war wie unser Sohn. Parvati tat damals (wie Padma heute) diese abstrakten Grübeleien ab und beschimpfte
mich als Narren, weil ich von dem Gedanken an Licht wie besessen war: Ich begann, in der Hütte, in der mein Sohn krank darniederlag, kleine Öllampen anzuzünden, und erfüllte den Raum um die Mittagszeit mit Kerzenlicht ... doch ich bestehe darauf, dass meine Diagnose richtig war. «Ich sage dir», beharrte ich damals, «solange der Notstand dauert, wird er nicht wieder gesund.»
    Zur Verzweiflung getrieben, da es ihr nicht gelang, dieses ernste Kind, das nie weinte, zu heilen, weigerte sich meine Parvati-Laylah, meinen pessimistischen Theorien zu glauben; stattdessen ließ sie sich auf jeden anderen Blödsinn ein. Als eine der älteren Frauen in der Kolonie der Magier ihr erzählte – auch Resham Bibi wäre dazu imstande gewesen -, dass die Krankheit nicht herauskönne, solange das Kind stumm bleibe, schien Parvati das plausibel zu finden.«Krankheit ist ein Kummer des Körpers», belehrte sie mich, «sie muss unter Tränen und Stöhnen abgeschüttelt werden.» Als sie an dem Abend

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