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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Risse – und selbst der Tod – der Kraft ihrer maßlosen Fürsorge weichen müssten ... «Wir sollten an die Zukunft denken», ermahnte sie mich – und vielleicht (zum ersten Mal, seit ich mit diesem Bericht begann, erlaube ich mir, daran zu denken), vielleicht gibt es eine! Eine Unzahl neuer Schlüsse wimmelt um meinen Kopf herum, summend wie Hitzetierchen ...«Lass uns heiraten, Herr», schlug sie vor, und Motten der Erregung rührten sich in meinem Gedärm, als hätte sie eine kabbalistische Formel, irgendein Furcht erregendes Abrakadabra ausgesprochen und mich von meinem Schicksal erlöst – doch die Wirklichkeit nagt an mir. Die Liebe besiegt nicht alles, außer in den Bombay-Filmen; Reißen Fetzen Knirschen lässt sich nicht durch eine bloße Zeremonie unterkriegen; und Optimismus ist eine Krankheit.
    «An deinem Geburtstag, was hältst du davon?», regt sie an. «Mit einunddreißig ist ein Mann ein Mann und sollte eine Frau haben.» Wie soll ich’s ihr beibringen? Wie kann ich ihr sagen, dass es für diesen Tag andere Pläne gibt, dass ich von einem Geschick bedroht bin, stets davon bedroht war, das besessen ist von der Form und das es genießt, an übersinnlichen Tagen das Unglück hereinbrechen zu lassen ... kurzum, wie soll ich zu ihr vom Tod sprechen? Ich kann es nicht, stattdessen nehme ich lammfromm und mit allen Anzeichen der Dankbarkeit ihren Antrag an. Ich bin heute Abend ein frisch verlobter Mann; soll nur niemand hart über mich urteilen, weil ich mir – und dem mir anverlobten Lotos – dieses letzte, nichtige, harmlose Vergnügen gönne.
    Padma hat, indem sie mir die Ehe antrug, ihre Bereitschaft kundgetan, alles, was ich ihr über meine Vergangenheit erzählte, als «hochgestochenes Geschwätz» abzutun; und als ich bei meiner Rückkehr Picture Singh strahlend im Schatten einer Eisenbahnbrücke vorfand, wurde bald klar, dass auch die Magier ihr Gedächtnis
verloren hatten. Auf irgendeinem der vielen Umzüge des Wanderslums hatten sie ihre Gedächtniskraft verlegt, sodass sie nun nicht mehr urteilsfähig waren, denn sie hatten alles vergessen, womit sie das, was sich ereignete, hätten vergleichen können. Sogar der Notstand fiel rasch dem Vergessen anheim, und die Magier konzentrierten sich mit der Monomanie von Schnecken auf die Gegenwart. Sie bemerkten auch nicht, dass sie sich verändert hatten; sie hatten vergessen, dass sie je anders gewesen waren. Der Kommunismus war aus ihnen ausgelaufen und von der durstigen, echsenschnellen Erde verschluckt worden; in dem Durcheinander aus Hunger, Durst und Polizeischikanen, das (wie gewöhnlich) die Gegenwart ausmachte, begannen sie, ihre Fertigkeiten zu vergessen. Mir jedoch kam diese Veränderung in meinen alten Gefährten geradezu obszön vor. Saleem hatte das Gedächtnis verloren und es wiedererlangt und hatte erfahren, wie unmoralisch eine solche Amnesie war; in seinem Kopf wurde die Vergangenheit jeden Tag lebendiger, während die Gegenwart (von der Messer ihn für immer getrennt hatten) farblos, konfus, belanglos erschien. Ich, der ich mich an jedes Haar auf den Köpfen der Gefängniswärter und Chirurgen erinnern konnte, war zutiefst schockiert über die Abneigung der Magier, zurückzublicken. «Menschen sind wie Katzen», sagte ich zu meinem Sohn, «man kann ihnen nichts beibringen.» Er sah angemessen ernst aus, hielt aber den Mund.
    Mein Sohn Aadam Sinai hatte, als ich den Phantomslum der Illusionisten wieder entdeckte, die Tuberkulose, an der er in seiner frühen Kindheit gelitten harte, ganz und gar überwunden. Ich war mir natürlich sicher, dass die Krankheit mit dem Sturz der Witwe verschwunden war; Picture Singh jedoch sagte mir, dass die Heilung als Verdienst einer bestimmten Wäscherin, Durga mit Namen, angesehen werden müsse. Sie hatte ihn während seiner ganzen Krankheit gestillt und ihm täglich die Gabe ihrer unerschöpflichen riesigen Brüste zukommen lassen. «Diese Durga, Hauptmann!», sagte Picture Singh, und seine Stimme verriet, dass er im Alter dem
schlangengleichen Zauber der Wäscherin verfallen war. «Was für eine Frau!»
    Sie war eine Frau mit strotzenden Muskeln und abnormen Brüsten, aus denen sich ein Strom von Milch ergoss, der ganze Regimenter hätte nähren können, und mit, so wurde vage gemunkelt (wenn ich auch vermute, dass sie selbst das Gerücht in die Welt gesetzt hatte), zwei Schößen. Sie steckte so voller Klatsch und Tratsch wie voll Milch: Jeden Tag strömten ein Dutzend neuer

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