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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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dass mein Kopfhaar mittlerweile grau wie Regenwolken war; der Zwerg im Spiegel erinnerte mich mit seinem faltigen Gesicht und den müden Augen lebhaft an meinen Großvater Aadam Aziz, wie er an dem Tag ausgesehen hatte, als er uns erzählte, er habe Gott gesehen. Zu der Zeit hatten all die Leiden, die Parvati-die-Hexe geheilt hatte, als Nachwirkung der Dränage wieder angefangen, mich zu plagen; neun Finger, Hörner an den Schläfen, Mönchstonsur, Flecken im Gesicht, O-Beine, Gurkennase, kastriert und nun auch noch vor der Zeit alt geworden: Ich sah im Spiegel der Demut ein menschliches Wesen, dem die Geschichte nichts mehr anhaben konnte, ein groteskes Geschöpf, befreit von dem vorherbestimmten Schicksal, das es so gebeutelt hatte, bis es halb besinnungslos war; mit einem guten und mit einem schlechten Ohr hörte ich die leisen Schritte des schwarzen Todesengels.
    Das jung-alte Gesicht des Zwerges im Spiegel zeigte einen Ausdruck tiefster Erleichterung.
     
    Ich werde trübsinnig; wechseln wir das Thema ... Genau vierundzwanzig Stunden, bevor die Sticheleien eines Paanverkäufers Picture Singh so provozierten, dass er sich zu einer Reise nach Bombay
entschloss, traf mein Sohn Aadam Sinai die Entscheidung, die es uns ermöglichte, den Schlangenbeschwörer auf seiner Reise zu begleiten: Über Nacht, ohne Vorwarnung und zur Bestürzung der Wäscherinnen-Amme, die ihre überflüssige Milch in Fünf-Liter-Vanaspati-Trommeln entleeren musste, entwöhnte der segelohrige Aadam sich selbst, verweigerte lautlos die Brustwarze und verlangte wortlos feste Nahrung: Reisbrei zerkochte Linsen Kekse. Es war, als habe er beschlossen, dass ich meine eigene und nun schon sehr nahe Ziellinie erreichen dürfe.
    Stumme Selbstherrschaft eines noch nicht zweijährigen Kindes: Aadam teilte uns nicht mit, wann er Hunger hatte oder müde war oder seine natürlichen Bedürfnisse verrichten wollte. Er erwartete von uns, dass wir das wussten. Die ständige Aufmerksamkeit, deren er bedurfte, ist vielleicht ein Grund, warum ich trotz aller gegenteiligen Anzeichen am Leben blieb ... da ich in jenen Tagen nach meiner Freilassung aus der Gefangenschaft zu nichts anderem fähig war, konzentrierte ich mich darauf, meinen Sohn zu beobachten. «Ich sag’ dir, Hauptmann, ein Glück, dass du zurückgekommen bist», scherzte Picture Singh, «sonst hätte der Kleine uns noch alle zu Ayahs gemacht.» Von neuem wurde mir bewusst, dass Aadam zu einer zweiten Generation magischer Kinder gehörte, die viel robuster werden würde als die erste und ihr Schicksal nicht in Prophezeiungen oder in den Sternen suchte, sondern es im unerbittlichen Feuerofen ihres Willens schmiedete. Wenn ich in die Augen des Kindes sah, das nicht mein Sohn und zugleich doch mehr mein Erbe war, als jedes leibliche Kind es hätte sein können, fand ich in seinen leeren klaren Augen einen zweiten Spiegel der Demut, der mir zeigte, dass meine Rolle von nun an so nebensächlich wie die jedes überflüssigen alten Herrn sein würde: die traditionelle Rolle eines Rückwärtsschauenden vielleicht, eines Geschichtenerzählers ... ich fragte mich, ob Shivas Bastardsöhne überall im Land glücklose Erwachsene ähnlich tyrannisierten, und stellte mir zum zweiten Mal jenen Stamm Furcht erregend starker Knirpse vor, die
heranwuchsen warteten zuhörten und den Augenblick probten, in dem die Welt ihr Spielzeug würde. (Woran man diese Kinder in Zukunft erkennen kann: Ihre Bimbis stehen vor, anstatt eingezogen zu sein.)
    Aber es ist Zeit, die Dinge in Bewegung zu setzen: eine Stichelei, eine letzte Eisenbahn, die Richtung Süden Süden Süden fährt, eine endgültige Schlacht ... am Tag nach Aadams Entwöhnung begleitete Saleem Picture Singh zum Connaught Place, um ihm beim Schlangenbeschwören zu assistieren. Durga die Wäscherin willigte ein, meinen Sohn mit zum Waschghat zu nehmen, wo er den Tag damit verbrachte, zuzusehen, wie Kraft aus den Kleidern der Wohlhabenden geprügelt und von der Sukkubus-Frau aufgesaugt wurde. An jenem schicksalsträchtigen Tag, als die Hitze in die Stadt zurückkehrte wie ein Bienenschwarm, wurde ich von Sehnsucht nach meinem platt gewalzten silbernen Spucknapf verzehrt. Picture Singh hatte mir einen Spucknapf-Ersatz, eine leere Dalda-Vanaspati-Büchse, besorgt, aber obwohl ich sie benutzte, um meinen Sohn mit meiner Könnerschaft in der liebenswürdigen Kunst des Triffden-Spucknapf zu unterhalten, und lange Strahlen von Betelsaft in die schmutzige Luft der

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