Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Zelte, die sich unter einer Eisenbahnbrücke aus Beton drängen, und sieht im Schatten des Betons einen schlangenbeschwörenden Riesen, der in einem breiten Lächeln verfaulende Zähne entblößt, und auf seinen Armen einen kleinen Jungen von ungefähr zwanzig Monaten, in einem mit rosa Gitarren bedruckten T-Shirt, mit Ohren wie Elefantenohren, mit Augen, so groß wie Untertassen, und mit einem Gesicht, so ernst wie das Grab.
Abrakadabra
Um die Wahrheit zu sagen, ich habe gelogen, was Shivas Tod betrifft. Meine erste unumwundene Lüge – obgleich meine Darstellung des Notstands als einer sechshundertfünfunddreißig Tage währenden Mitternacht vielleicht übertrieben romantisch und sicherlich durch die verfügbaren meteorologischen Daten widerlegt ist. Und dennoch, was immer man glauben mag, Lügen fällt Saleem nicht leicht, und ich lasse beschämt den Kopf hängen, da ich dies beichte ... Warum also diese einzige freche Lüge? (Weil ich in Wirklichkeit keine Ahnung habe, wo mein Wechselbalg-Rivale nach seinem Gastspiel in der Herberge der Witwen hinging; er könnte in der Hölle oder im Bordell weiter unten an der Straße sein, und es wäre mir vollkommen einerlei.) Padma, versuch es zu verstehen: Ich habe immer noch Angst vor ihm. Zwischen uns ist noch nicht alles geregelt, und ich verbringe meine Tage zitternd bei dem Gedanken, dass der Kriegsheld auf irgendeine Weise das Geheimnis seiner Geburt entdeckt haben könnte – hat man ihm je eine Akte mit drei verräterischen Initialen gezeigt? – und dass er, durch den nicht wieder gutzumachenden Verlust seiner Vergangenheit erzürnt, nach mir suchen könnte, um erdrückende Rache zu fordern ... wird es so enden, wird mir das Leben durch ein Paar übermenschlicher, erbarmungsloser Knie ausgepresst?
Deshalb flunkerte ich jedenfalls; zum ersten Mal fiel ich der Versuchung zum Opfer, die jeder Autobiograph kennt, der Illusion, dass es möglich sei – da die Vergangenheit nur in der eigenen Erinnerung und in den Worten existiert, die sie vergeblich einzukapseln suchen –, vergangene Ereignisse zu schaffen, einfach indem man sagt, sie seien geschehen. Meine gegenwärtige Angst legte eine
Pistole in Roshanara Shettys Hand; Fregattenkapitän Sabarmatis Geist sah mir dabei über die Schulter, und so befähigte ich sie, sich durch Bestechung und Koketterie den Weg in seine Zelle zu erschleichen ... kurzum, die Erinnerung an eins meiner frühesten Verbrechen schuf die (fiktiven) Umstände meines letzten. Ende der Beichte: Und nun komme ich dem Ende meiner Reminiszenzen gefährlich nahe. Es ist Nacht; Padma hat ihre gewohnte Position eingenommen; an der Wand über meinem Kopf hat eine Eidechse gerade eine Fliege verschluckt; die zersetzende Augusthitze, die ausreicht, um einem das Gehirn einzulegen, blubbert fröhlich in meinen Ohren, und vor fünf Minuten gelbte und braunte die letzte Stadtbahn ihren Weg nach Süden zur Churchgate Station, sodass ich nicht hörte, was Padma mit einer Schüchternheit sagte, die eine Entschlusskraft, unüberwindlich wie Öl, verdeckte. Ich musste sie bitten, es zu wiederholen, und die Muskeln der Ungläubigkeit begannen in ihren Waden zu zucken. Ich muss sofort aufzeichnen, dass unser Dunglotos mir einen Heiratsantrag machte, «damit ich mich um dich kümmern kann, ohne in den Augen der Welt Schande über mich zu bringen». Genau wie ich gefürchtet hatte! Aber nun ist es heraus, und Padma (so viel weiß ich) wird kein Nein als Antwort akzeptieren. Ich habe protestiert wie eine errötende Jungfrau:«So unerwartet! – Und was ist mit der Ektomie und dem, was an Straßenköter verfüttert wurde: Macht dir das nichts? – Und Padma, Padma, da ist immer noch das, was-an-den-Knochen-kaut, es wird dich zur Witwe machen! – Und denk doch nur einmal einen Augenblick nach, da ist der Fluch des gewaltsamen Todes, denk an Parvati. – Bist du sicher, bist du ganz sicher, dass du dir sicher bist ...?» Doch Padma presste ihre Kiefer majestätisch zusammen, unumstößlich ist ihr Beschluss. «Hör mir einmal zu, Herr», antwortete sie, «komm mir nicht mit wenn und aber! Vergiss das ganze hochgestochene Geschwätz. Wir müssen an die Zukunft denken.» Die Hochzeitsreise soll nach Kaschmir gehen. Angesichts der glühenden Hitze von Padmas Entschlusskraft überfällt mich
der wahnwitzige Gedanke, dass es schließlich doch möglich sein könnte, dass sie den Schluss meiner Geschichte durch ihre phänomenale Willenskraft abändern könnte, dass
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