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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Geschichten über ihre Lippen. Sie besaß die grenzenlose Energie, die allen eigen ist, die dieses Gewerbe betreiben; wenn sie auf ihrem Stein das Leben aus Hemden und Saris herauswalkte, schien sie stärker zu werden, als sauge sie die Kraft aus den Kleidern, die am Schluss platt, knopflos und zu Tode geprügelt dalagen. Sie war ein Monster, das jeden Tag in dem Augenblick vergaß, da er endete. Nur mit größtem Widerstreben willigte ich ein, ihre Bekanntschaft zu machen; nur mit größtem Widerstreben nehme ich sie in diese Seiten auf. Ihr Name roch, sogar schon bevor ich sie traf, nach neuen Dingen; sie repräsentierte Neuheit, Anfänge, das Kommen neuer Geschichten Ereignisse Komplikationen, und ich war an nichts Neuem mehr interessiert. Als Pictureji mir jedoch mitteilte, dass er sie heiraten wollte, hatte ich keine Wahl; ich werde mich indes so kurz mit ihr befassen, wie die Genauigkeit es erlaubt.
    Kurzgefaßt also: Durga die Wäscherin war ein Sukkubus! Eine Blut saugende Eidechse in Menschengestalt! Und ihr Einfluss auf Picture Singh konnte nur mit ihrer Macht über die auf Steinen geschlagenen Hemden verglichen werden: Mit einem Wort, sie schlug ihn platt. Nachdem ich sie einmal kennen gelernt hatte, verstand ich, warum Picture Singh alt und verloren aussah; da er nun des Schirms der Eintracht beraubt war, unter dem Männer und Frauen sich versammelt hatten, um Rat und Schatten zu suchen, schien er täglich zu schrumpfen; die Möglichkeit, dass aus ihm ein zweiter Kolibri werden könnte, schwand vor meinen Augen dahin. Durga jedoch blühte auf: Ihr Klatsch beschäftigte sich immer mehr mit
Obszönitäten, ihre Stimme wurde lauter und heiserer, bis sie mich schließlich an Ehrwürdige Mutter in ihren späteren Jahren erinnerte, als sie sich ausdehnte und mein Großvater schrumpfte. Dieser nostalgische Widerhall, der mich an meine Großeltern erinnerte, war das Einzige, was mich an der Persönlichkeit der frechen Wäscherin interessierte.
    Die Freigebigkeit ihrer Milchdrüsen aber kann man nicht leugnen: Mit einundzwanzig Monaten saugte Aadam immer noch zufrieden an ihren Brustwarzen. Erst wollte ich darauf bestehen, dass er entwöhnt wurde, erinnerte mich dann aber, dass mein Sohn nur und genau das tat, was er wollte, und beschloss, nicht zu drängen. (Und wie sich herausstellte, tat ich gut daran.) Was ihren doppelten Schoß betraf, so hatte ich kein Verlangen zu erfahren, ob das Gerücht stimmte oder nicht, und stellte keine Nachforschungen an.
    Ich erwähne Durga die Wäscherin hauptsächlich deshalb, weil sie eines Abends, als wir unsere Mahlzeit von siebenundzwanzig Reiskörnern pro Person aßen, als Erste meinen Tod voraussagte. Ich hatte, aufgebracht über ihren ständigen Strom von Neuigkeiten und Getratsche, gerufen: «Durga Bibi, kein Mensch interessiert sich für deine Geschichten!» Worauf sie gelassen antwortete: «Saleem Baba, ich bin gut zu dir gewesen, weil Pictureji sagt, dass du nach deiner Haft völlig kaputt sein musst. Aber offen gestanden, scheinst du nur noch herumlungern zu wollen. Du solltest begreifen, dass ein Mann, wenn er das Interesse an neuen Dingen verliert, dem Schwarzen Engel Tür und Tor öffnet.»
    Und obwohl Picture Singh nachsichtig sagte: «Komm, Capteena, sei nicht so grob zu dem Jungen», traf der Pfeil Durgas der Wäscherin ins Schwarze.
    Ich war erschöpft nach meiner Rückkehr, fühlte mich ausgelaugt, und ich spürte, wie die Leere der Tage mich mit einem dicken klebrigen Film umgab. Und obwohl Durga sich am nächsten Morgen erbötig machte, vielleicht aus echter Reue wegen ihrer harten Worte, meine Kräfte wiederherzustellen, indem sie mich an ihrer linken
Brust saugen ließ, während mein Sohn an der rechten sog, «und danach wirst du vielleicht wieder vernünftig», begannen Vorahnungen von Sterblichkeit meine Gedanken zu beherrschen; und dann entdeckte ich im Busbahnhof von Shadipur den Spiegel der Demut und wusste, dass mein Ende nahte.
    Es war ein schräg gehängter Spiegel über der Einfahrt zur Busgarage; als ich einmal ziellos über den Vorhof des Depots spazierte, fiel er mir auf, weil sich die Sonne blitzend in ihm widerspiegelte. Mir wurde bewusst, dass ich mich monate-, vielleicht jahrelang nicht mehr im Spiegel gesehen hatte, und ich ging hinüber und stellte mich darunter. Als ich nach oben in den Spiegel blickte, sah ich mich als Zwerg mit dickem Kopf und viel zu großem Oberkörper. An meinem erniedrigend verkürzten Spiegelbild erkannte ich,

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