Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Erstaunen aller eine allgemeine Wahl anberaumt hatte. (Aber nun, da Sie über
uns Bescheid wissen, verstehen Sie ihr übermäßiges Selbstvertrauen vielleicht besser.) Doch an jenem Tag wusste ich weder etwas von ihrer vernichtenden Niederlage noch vom Aktenverbrennen; erst später erfuhr ich, wie die zerschlissenen Hoffnungen der Nation der Obhut eines Zittergreises übergeben worden waren, der Pistazien und Cashewnüsse aß und täglich ein Glas «seines eigenen Wassers» zu sich nahm. Urintrinker waren an die Macht gekommen. Die Janata-Partei, deren einer Führer durch eine künstliche Niere behindert wurde, schien mir (als ich davon hörte) keine neue Morgenröte darzustellen, aber vielleicht war es mir nur endlich gelungen, mich von dem Optimismusvirus zu heilen – andere, die die Krankheit noch im Blut hatten, empfanden vielleicht anders. Jedenfalls hatte ich an jenem Märztag genug, mehr als genug von der Politik – oder hatte genug davon gehabt. Vierhundertzwanzig standen blinzelnd im Sonnenlicht und im Tumult der Gassen von Benares; vierhundertzwanzig sahen einander an und sahen in ihren Augen die Erinnerung an ihre Kastration und murmelten dann, unfähig, den Anblick zu ertragen, Lebewohl und zerstreuten sich für alle Zeiten in die heilende Isolation der Massen. Was geschah mit Shiva? Major Shiva wurde unter dem neuen Regime in Militärhaft genommen; er blieb jedoch nicht lange im Gefängnis, denn er durfte einen Besucher empfangen: Roshanara Shetty erschlich sich durch Bestechung und Koketterie den Weg in seine Zelle, dieselbe Roshanara, die auf dem Mahalaxmi-Rennplatz Gift in seine Ohren geträufelt hatte und seitdem von einem außerehelichen Sohn verrückt gemacht wurde, der sich weigerte zu sprechen und nichts tat, was er nicht tun wollte. Die Frau des Stahlmagnaten zog aus der Handtasche die riesige deutsche Pistole ihres Ehemannes und schoss dem Kriegshelden durchs Herz. Der Tod trat, wie man so sagt, auf der Stelle ein.
Der Major starb, ohne zu erfahren, dass einst in einem safrangelben und grünen Entbindungsheim, inmitten des mythologischen Chaos einer unvergesslichen Mitternacht, eine winzige verstörte Frau die Namensschildchen von Säuglingen vertauscht und ihm sein Geburtsrecht verwehrt hatte, nämlich diese Welt auf dem Hügelchen, eingesponnen in Geld und gestärkte weiße Kleidung und Dinge Dinge Dinge – eine Welt, die er liebend gern besessen hätte.
Und Saleem? Nicht mehr mit der Geschichte verknüpft, oben und unten dräniert, schlug ich mich zur Hauptstadt durch, in dem Bewusstsein, dass eine Ära, die in jener längst vergangenen Mitternacht begonnen hatte, zu einer Art Ende gekommen war. Wie ich reiste: mit nichts als einer Bahnsteigkarte in der Hand wartete ich auf dem Bahnhof von Benares oder Varanasi auf der anderen Seite der Gleise und sprang, sobald der Postzug Richtung Westen abfuhr, auf das Trittbrett eines Erste-Klasse-Abteils. Und nun wusste ich endlich, was für ein Gefühl es war, sich festzuhalten, als ging’s ums liebe Leben, während Ruß-Staub-Asche-Teilchen in den Augen brannten und man gegen die Tür schlug und schrie: «Ohé, Maharadsch! Aufmachen! Lassen Sie mich herein, hoher Herr, Maharadsch!» Während drinnen eine Stimme vertraute Worte äußerte: «Auf keinen Fall die Tür öffnen! Bloß Schwarzfahrer, das Übliche.»
In Delhi: Saleem stellt Fragen. Haben Sie gesehen, wo? Wissen Sie, ob die Zauberer? Kennen Sie einen Picture Singh? Ein Postbote, in dessen Augen die Erinnerung an Schlangenbeschwörer verblasste, zeigte nach Norden. Und später schickte mich ein Paanhändler mit schwarzer Zunge denselben Weg zurück. Dann endlich hört die Spur auf, sich zu verzweigen; Straßenkünstler setzen mich auf die Fährte. Ein Dilli-dekho-Mann mit einem Guckkasten, ein Mungo-und-Kobra-Dompteur, der eine Papiermütze trägt, die aussieht wie ein Spielzeugboot, ein Mädchen an einer Kinokasse, das sich noch immer nach seiner Kindheit als Zauberlehrling zurücksehnt ...
wie Fischer deuten sie mit dem Finger. Nach Westen Westen Westen, bis Saleem endlich am Shadipur-Busbahnhof am westlichen Stadtrand ankommt. Hungrig durstig geschwächt krank, hüpft er kraftlos den Bussen aus dem Weg, die hinein und heraus aus dem Depot dröhnen – farbenfreudig bemalten Bussen, die auf der Kühlerhaube Inschriften tragen wie So Gott will! und andere Leitsprüche, beispielsweise Gott sei Dank! auf der Rückfront –, und kommt schließlich zu einem Gewirr zerlumpter
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