Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Nadir Khan träumte immer noch von den singenden Messern und bat flehentlich: «Noch nicht, Doktor Sahib, bitte noch eine Weile.» Sodass mein Großvater, dessen Stimme in dem Haus, in dem so wenige Worte gesprochen wurden, schwach und unheimlich klang, eines Abends im Spätsommer 1943 – der Regen war wieder ausgeblieben – seine Kinder im Wohnzimmer versammelte, in dem ihre Porträts hingen. Als sie eintraten, entdeckten sie, dass ihre Mutter abwesend war, es vorgezogen hatte, mit ihrem Netz aus Schweigen
in ihrem Zimmer eingesperrt zu bleiben; anwesend aber waren ein Rechtsanwalt und ein Mullah (obwohl es Aziz widerstrebte, hatte er Mumtaz’ Wünschen nachgegeben), beide von der kränklichen Rani von Cooch Naheen beschafft, beide «äußerst diskret». Und ihre Schwester Mumtaz war im Brautputz da, und neben ihr in einem vor die Radiotruhe platzierten Sessel war die glatthaarige, übergewichtige, verlegene Gestalt Nadir Khans. So kam es, dass die erste Hochzeit im Haus ohne Zelte, ohne Sänger, ohne Süßigkeiten und mit nur einem Minimum an Gästen stattfand. Und nachdem die Zeremonie vorbei war und Nadir Khan den Schleier seiner Braut lüftete – was Aziz plötzlich einen Schock versetzte: Einen Augenblick lang war er wieder jung, war in Kaschmir und saß auf einem Podium, während Leute ihm Rupien in den Schoß warfen –, zwang mein Großvater sie alle, einen Eid zu schwören, niemandem die Anwesenheit ihres neuen Schwagers im Keller zu offenbaren. Als Allerletzte gab Emerald zögernd ihr Versprechen.
Danach mussten die Söhne Aadam Aziz helfen, alle möglichen Einrichtungsgegenstände durch die Falltür im Fußboden des Wohnzimmers zu befördern: Dekorationen und Kissen und Lampen und ein großes bequemes Bett. Und endlich stiegen Nadir und Mumtaz hinunter in das Gewölbe, die Falltür wurde geschlossen und der Teppich an seinen Platz gerollt, und Nadir Khan, der seine Frau so zärtlich liebte, wie ein Mann es überhaupt kann, hatte sie in seine Unterwelt aufgenommen.
Mumtaz Aziz begann ein Doppelleben zu führen. Tagsüber war sie ein allein stehendes Mädchen, das züchtig bei seinen Eltern lebte, mit mäßigem Erfolg ein Studium an der Universität absolvierte und die Gaben der Hilfsbereitschaft, Würde und Nachsicht kultivierte, die sie ihr Leben lang prägen würden, bis zu der Zeit und einschließlich der Zeit, in der sie von den sprechenden Wäschetruhen der Vergangenheit bestürmt und dann flach wie ein Reiskuchen zerquetscht wurde. Nachts aber, wenn sie durch eine Falltür hinabstieg, betrat sie ein lampenerleuchtetes, von der Welt abgeschiedenes
Ehegemach, das ihr heimlicher Ehemann das Tadsch Mahal nannte, weil Tadsch Bibi der Name war, mit dem die Leute eine frühere Mumtaz gerufen hatten – Mumtaz Mahal, die Frau des Herrschers Schahdschahan, dessen Name «König der Welt» bedeutete. Als sie starb, erbaute er ihr jenes Mausoleum, das auf Postkarten und Schokoladenverpackungen unsterblich gemacht wurde und dessen äußere Korridore nach Urin stinken und dessen Wände mit Graffiti bedeckt sind und dessen Echo von Führern für Besucher ausprobiert wird, obwohl Schilder in drei Sprachen um Stille bitten. Wie Schahdschahan und seine Mumtaz lagen Nadir und seine schwarze Dame Seite an Seite, und eine Einlegearbeit aus Lapislazuli war ihr Begleiter, denn die bettlägerige, sterbende Rani von Cooch Naheen hatte ihnen als Hochzeitsgeschenk einen wunderbar verzierten, mit Lapislazuli und Edelsteinen eingelegten Spucknapf aus Silber gesandt. In ihrer gemütlichen lampenerleuchteten Versenkung spielten Mann und Frau das Spiel der alten Männer.
Mumtaz bereitete die Paans für Nadir, mochte aber selbst den Geschmack nicht. Sie spuckte Ströme von Nibu-Pani. Sein Strahl war rot und ihrer hellgrün. Es war die glücklichste Zeit ihres Lebens. Und sie sagte nachher, am Ende des langen Schweigens: «Wir hätten schließlich Kinder bekommen, nur damals war es nicht richtig, das ist alles.» Mumtaz Aziz liebte ihr Leben lang Kinder.
Unterdessen bewegte Ehrwürdige Mutter sich träge durch die Monate, im Griff eines Schweigens, das so absolut geworden war, dass selbst die Dienstboten ihre Befehle in Zeichensprache entgegennahmen. Und einmal hatte der Koch Daoud sie bei dem Versuch, ihr einschläfernd wildes Signalisieren zu verstehen, angestarrt und infolgedessen nicht in Richtung des Topfs mit kochender Soße gesehen, der ihm auf den Fuß fiel und ihn wie ein fünfzehiges Ei briet; er machte den
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