Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
unter den alterslosen Fotos. Aziz trug Mumtaz ins Zimmer und setzte sie auf eine Couch. Sein Gesicht sah schrecklich aus. Können Sie sich vorstellen, was er für ein Gefühl in der Nase hatte? Denn er konnte diese Bombe platzen lassen: Seine Tochter war nach zwei Ehejahren noch Jungfrau.
Es war drei Jahre her, seit Ehrwürdige Mutter zuletzt gesprochen hatte. «Tochter, ist das wahr?» Das Schweigen, das wie eine zerrissene Spinnwebe in den Ecken des Hauses gehangen hatte, war endlich weggeblasen, aber Mumtaz nickte bloß: Ja, wahr.
Dann sprach sie. Sie sagte, sie liebe ihren Mann, und das andere würde am Ende schon gut ausgehen. Er sei ein guter Mann, und wenn es möglich sei, Kinder zu bekommen, würde er es bestimmt auch möglich finden, es zu machen. Sie sagte, eine Ehe solle nicht davon abhängen, habe sie gedacht, deshalb habe sie es nicht erwähnen wollen, und ihr Vater habe nicht recht daran getan, es vor jedermann so herauszuposaunen, wie er es getan habe. Sie hätte noch mehr gesagt, aber nun brach es aus der Ehrwürdigen Mutter heraus.
Die Worte von drei Jahren entströmten ihr (doch ihr Körper, der sich gedehnt hatte, da er sie alle aufbewahren musste, wurde nicht weniger). Mein Großvater stand ganz still am Telefunken, als der Sturm über ihn hereinbrach. Wessen Idee war es gewesen? Wessen verrückter närrischer Plan, wieheißtesnoch, diesen Feigling, der noch nicht einmal ein Mann war, ins Haus zu lassen? Damit er hier blieb, wieheißtesnoch, frei wie ein Vogel, Essen und Unterkunft für drei Jahre, was hast du dich um fleischlose Tage gekümmert, wieheißtesnoch, was hast du schon von den Reiskosten gewusst? Wer war der Schwächling, wieheißtesnoch, ja, der weißhaarige
Schwächling, der diese schändliche Heirat erlaubt hatte? Wer hatte seine Tochter in das Bett dieses, wieheißtesnoch, Schurken gelegt? Wessen Kopf steckte so voll von allem möglichen verdammten närrischen unverständlichen Zeug, wieheißtesnoch, wessen Verstand war von phantastischen ausländischen Ideen so aufgeweicht, dass er sein Kind in solch eine unnatürliche Ehe schicken konnte? Wer hatte sein Leben damit verbracht, Gott zu schmähen, wieheißtesnoch, und auf wessen Kopf entlud sich die Strafe? Wer hatte Unglück über dieses Haus gebracht ... eine Stunde und neunzehn Minuten lang sprach sie gegen meinen Großvater, und als sie fertig war, war den Wolken das Wasser ausgegangen und stand das Haus voller Pfützen. Und ehe sie fertig war, tat ihre jüngste Tochter Emerald etwas sehr Merkwürdiges. Emeralds Hände hoben sich neben ihr Gesicht, ballten sich zu Fäusten, aber mit ausgestrecktem Zeigefinger. Die Zeigefinger drangen in die Ohren ein und schienen Emerald von ihrem Sitz zu heben, bis sie, die Finger in die Ohren gestopft, lief – VOLLE WUCHT! –, ohne Dupatta hinaus auf die Straße lief, durch Wasserpfützen, am Rikschastand vorbei, am Paangeschäft vorbei, wo die alten Männer gerade vorsichtig an die regenfrische Luft kamen, und ihre Geschwindigkeit verblüffte die Straßenjungen, die startbereit dastanden und darauf warteten, dass sie ihr Spiel, zwischen den Strömen von Betel hin und her zu springen, beginnen konnten, denn niemand war gewohnt, eine junge Dame und erst recht nicht eine der Teen Batti allein und verstört und mit den Fingern in den Ohren und ohne Dupatta um die Schultern durch die vom Regen aufgeweichten Straßen laufen zu sehen. Heutzutage sind die Städte voller moderner modischer Fräulein ohne Dupatta, aber damals schnalzten die alten Männer bekümmert mit der Zunge, denn eine Frau ohne Dupatta war eine Frau ohne Ehre, und warum hatte Emerald Bibi beschlossen, ihre Ehre zu Hause zu lassen? Die Alten waren verwirrt, aber Emerald wusste es. In der Luft nach dem Regen sah sie ganz klar und frisch, dass die Quelle allen Übels in ihrer Familie dieses feige Dickerchen
(ja, Padma) war, das im Untergrund lebte. Wenn sie ihn loswerden könnte, würden alle wieder glücklich sein ... Ohne eine Pause zu machen, lief Emerald zum Kasernenviertel, wo der Armeestützpunkt war, wo Major Zulfikar sein würde! In dem Augenblick, in dem meine Tante in seinem Büro eintraf, brach sie ihren Schwur.
Zulfikar ist bei den Moslems ein berühmter Name. Es war der Name des zweischneidigen Schwertes, das Ali, der Vetter des Propheten Mohammed, trug. Es war eine Waffe, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte.
Ach ja: Noch etwas geschah an jenem Tag auf der Welt. Eine Waffe, wie sie die Welt noch nie gesehen
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