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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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hoher Herr.»
    «Schwarzfahrer», sagte Ahmed Sinai, aber sie waren mehr als das. Sie waren eine Prophezeiung. Bald sollte es weitere geben.
    ... Und nun stand die Sonne am falschen Ort, und sie, meine Mutter, lag im Bett und fühlte sich unwohl, aber auch erregt von dem, was in ihr geschehen war und was zunächst noch ihr Geheimnis war. An ihrer Seite schnarchte Ahmed Sinai und schnarchte mächtig. Für ihn gab es keine Schlaflosigkeit, überhaupt keine, trotz der Probleme, die ihn veranlasst hatten, einen grauen Beutel voller Geld heraufzubringen und unter dem Bett zu verstecken, als er dachte, Amina würde nicht hinsehen. Mein Vater schlief fest, umschlossen von der besänftigenden Hülle der größten Gabe meiner Mutter, die, wie sich herausstellte, viel mehr wert war als der Inhalt des grünen Blechkoffers. Amina Sinai schenkte Ahmed die Gabe ihrer unerschöpflichen Emsigkeit.
    Niemand gab sich jemals solche Mühe wie Amina. Von dunkler Haut, mit glühenden Augen, war meine Mutter von Natur die penibelste Person auf Erden. Emsig arrangierte sie Blumen in den Fluren und Zimmern des Hauses in Alt-Delhi; Teppiche wurden mit unendlicher Sorgfalt ausgewählt. Sie konnte sich fünfundzwanzig Minuten lang darüber Gedanken machen, wo sie einen Stuhl hinstellen sollte. Als sie damit fertig war, ihr Heim einzurichten, hier
ein winziges Detail hinzugefügt, dort eine Kleinigkeit verändert hatte, merkte Ahmed Sinai, dass seine Waisenunterkunft in etwas Freundliches und Liebevolles verwandelt worden war. Amina stand stets vor ihm auf, weil ihre Emsigkeit sie dazu trieb, alles abzustauben, sogar die Bambusjalousien (bis er einwilligte, einen Hammal einzustellen); aber was Ahmed nie erfuhr, war, dass die Begabungen seiner Frau am hingebungsvollsten, am entschlossensten nicht den Äußerlichkeiten ihres gemeinsamen Lebens galten, sondern der Person Ahmed Sinais selbst.
    Warum hatte sie ihn geheiratet? – Um getröstet zu werden, um Kinder zu bekommen. Aber anfangs stellte die Schlaflosigkeit, die ihren Verstand umhüllte, sich ihrem ersten Ziel in den Weg, und Kinder kommen nicht immer sofort. So hatte Amina sich dabei ertappt, dass sie von einem unträumbaren Dichtergesicht träumte und mit einem unaussprechbaren Namen auf den Lippen erwachte. Sie fragen: Was hat sie dagegen getan? Ich antworte: Sie hat die Zähne zusammengebissen und sich zur Ordnung gerufen. Das hielt sie sich vor: «Du großer undankbarer Kindskopf, kannst du denn nicht sehen, wer jetzt dein Mann ist? Weißt du nicht, was einem Ehemann zusteht?» Lassen Sie mich, um einer fruchtlosen Debatte über die richtigen Antworten auf diese Fragen zuvorzukommen, sagen, dass nach Auffassung meiner Mutter einem Ehemann bedingungslose Treue und rückhaltlose, aus ganzem Herzen kommende Liebe zustanden. Aber eine Schwierigkeit gab es: Amina, in deren Seele sich Nadir Khan und Schlaflosigkeit ballten, merkte, dass sie Ahmed Sinai nicht auf natürliche Weise mit diesen Dingen beglücken konnte. Und so brachte sie ihre Gabe der Emsigkeit zur Anwendung und erzog sich dazu, ihn zu lieben. Zu diesem Zweck teilte sie ihn im Geiste in jeden einzelnen seiner Bestandteile auf, körperlich wie auch verhaltensmäßig, unterteilte ihn in Lippen und sprachliche Eigenarten und Vorurteile und Ähnliches ... kurzum, sie verfiel dem Bann des Lakens ihrer eigenen Eltern, weil sie beschloss, sich Stück für Stück in ihren Ehemann zu verlieben.
    Jeden Tag wählte sie einen isolierten Teil von Ahmed Sinai aus und konzentrierte ihr ganzes Wesen darauf, bis er vollkommen vertraut wurde und sie eine Wärme in sich aufsteigen spürte, die Zuneigung und schließlich Liebe wurde. So kam es, dass sie seine überlaute Stimme bewunderte und die Art, wie sie ihr in den Ohren dröhnte und sie erzittern ließ, und ebenso seine Eigenart, immer guter Laune zu sein, bis er sich rasiert hatte – danach wurde sein Verhalten jeden Morgen streng, schroff, geschäftsmäßig und distanziert –, und seine Geieraugen, die – davon war sie überzeugt – seine innere Güte hinter einem kalt-vieldeutigen Blick verbargen, und die Art, wie seine Unterlippe über seine Oberlippe hinausragte, und seine kleine Statur, die ihn dazu brachte, ihr zu verbieten, jemals hohe Absätze zu tragen ... «Mein Gott», sagte sie zu sich, «es scheint, an jedem Mann gibt es eine Million verschiedene Dinge zu lieben!» Aber sie war unverzagt. «Wer kennt schließlich schon», argumentierte sie insgeheim, «ein anderes

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