Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
ihr Lebensunterhalt abhing, waren in diesem Warenlager verstaut. «Aber wer sollte so etwas tun?» klagte Zohra in Eintracht mit ihren singenden Brüsten. «Was für Verrückte laufen heutzutage frei in der Welt herum?» ... Und so hörte Amina zum ersten Mal den Namen, den ihr Mann vor ihr verheimlicht hatte und der in jenen Zeiten viele Herzen mit Schrecken erfüllte. «Es ist Ravana», sagte S. P. Butt ... doch Ravana ist der Name eines vielköpfigen Dämons; sind also Dämonen im Land unterwegs? «Was ist das für ein Unsinn?» Amina, die mit dem Hass ihres Vaters auf Aberglauben sprach, verlangte eine Antwort,
und Herr Kemal lieferte sie. «Es ist der Name eines heimtückischen Haufens, Madam, einer Bande brandlegender Schurken. Dies sind unruhige Zeiten, sehr unruhige Zeiten.»
Im Warenlager: eine Rolle Kunstleder auf der anderen und die Waren, mit denen Herr Kemal handelt, Reis, Tee, Linsen – er hortet sie überall im Land in großen Mengen als eine Art Schutz gegen das vielköpfige vielmäulige raubgierige Ungeheuer Öffentlichkeit, das, ließe man die Zügel schießen, die Preise in einer Zeit des Überflusses so drücken würde, dass gottesfürchtige Unternehmer verhungern müssten, während das Ungeheuer fett würde ... «Ökonomie ist Knappheit», argumentiert Herr Kemal, «deshalb halten meine Vorräte nicht nur die Preise auf einem anständigen Niveau, sondern untermauern sogar die Struktur der Wirtschaft.» – Und dann liegt im Warenlager Herrn Butts Vorrat, in Kartons mit der Aufschrift MARKE AAG verpackt. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass «aag» Feuer heißt. S. P. Butt war Streichholzfabrikant.
«Unsere Informationen», sagt Herr Kemal, «enthüllen nur, dass es im Industriegebiet brennt. Um welchen Godown es sich handelt, ist nicht spezifiziert.»
«Aber warum sollte es unserer sein?», fragt Ahmed Sinai. «Warum, wo wir doch noch Zeit zum Bezahlen haben?»
«Bezahlen?», unterbricht ihn Amina. «Wen bezahlen? Was bezahlen? Mann, Janum, mein Leben, was geht hier vor?» ... Aber: «Wir müssen gehen», sagt S. P. Butt, und Ahmed Sinai geht, in zerknitterten Nachtpajamas und allem, eilt trappelnd mit dem Dünnen und dem Rückgratlosen aus dem Haus, lässt ungegessenen Khichri, Frauen mit weit aufgerissenen Augen, gedämpften Lata zurück, und in der Luft hängt der Name Ravana ... «eine Bande von Tunichtguten, Madame, skrupellosen Halsabschneidern und Flegeln allesamt».
Und S. P. Butts letzte zittrige Worte: «Verdammte Hindu-Feuerteufel, Begum Sahiba. Aber was können wir Moslems tun?»
Was ist von der Ravana-Bande bekannt? Dass sie als fanatische antimoslemische Bewegung auftrat, was in jenen Tagen vor den Krawallen im Zusammenhang mit der Teilung, in denen ungestraft Schweinsköpfe in die Höfe der Freitagsmoscheen gelegt werden konnten, nichts Ungewöhnliches war. Dass sie mitten in der Nacht Männer ausschickte, die sowohl in der neuen als auch in der alten Stadt Wahlsprüche auf die Mauern malten: TEILUNG BRINGT ZERSTÖRUNG! MOSLEMS SIND DIE JUDEN ASIENS! und so weiter. Und dass sie Fabriken, Geschäfte, Warenlager im Besitz von Moslems abbrannte. Aber es gibt noch mehr, und das ist nicht allgemein bekannt: Hinter dieser Fassade des Rassenhasses war die Ravana-Bande ein brillant ausgeklügeltes Geschäftsunternehmen. Anonyme Telefonanrufe, Briefe, die mit aus Zeitungen ausgeschnittenen Wörtern geschrieben waren, erreichten moslemische Geschäftsleute, denen die Wahl zwischen der Zahlung einer einmaligen Summe Bargeld und dem Niederbrennen ihrer Welt gelassen wurde. Interessanterweise erwies sich, dass die Bande Berufsethos hatte. Es wurden keine zweiten Forderungen gestellt. Und sie meinte es ernst: Blieben die grauen Säcke mit der Löhnung aus, züngelten Flammen an Läden, Fabriken, Lagerhäusern. Die meisten Leute bezahlten, da sie dies der risikoreichen Alternative, der Polizei zu vertrauen, vorzogen. Auf die Polizei konnten sich die Moslems 1947 nicht verlassen. Und man sagt (obwohl ich dessen nicht sicher sein kann), dass die Erpresserbriefe bei ihrem Eintreffen auch eine Liste «zufriedener Kunden» enthielten, die bezahlt hatten und gut im Geschäft geblieben waren. Die Ravana-Bande gab – wie alle Profis – Referenzen an.
Zwei Männer in Straßenanzügen und einer in Pajamas liefen durch die engen Gassen des Moslem-Muhallas zu dem Taxi, das am Chandni Chowk wartete. Sie zogen neugierige Blicke auf sich: nicht nur wegen ihres unterschiedlichen Aufzugs,
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