Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
diesem Dreckskerl Baligga? Wenn das stimmt, kommen schließlich alle ohne Ärzte aus ... und das führt mich zurück zu dem Grund, aus dem Amina Sinai eines Morgens mit der Sonne auf den Lippen aufwachte.
«Sie ist an der falschen Seite aufgegangen!», kreischte sie unversehens und begriff dann, als das Brummen der schlecht durchschlafenen Nacht nachließ, wie sie in diesem Monat der Illusionen einem Trick zum Opfer gefallen war, denn nichts weiter war geschehen, als dass sie in Delhi im Heim ihres neuen Ehemannes, das nach Osten lag, aufgewacht war; in Wahrheit also stand die Sonne am richtigen Ort, und ihre Lage hatte sich verändert ... aber etwas von dem verwirrenden Eindruck blieb haften und verhinderte, dass sie sich vollkommen wohl fühlte, selbst nachdem sie diesen grundlegenden Gedanken begriffen und ihn mit den vielen ähnlichen Fehlern beiseite gelegt hatte, die sie seit ihrer Ankunft gemacht hatte (denn ihre Verwirrung über die Sonne war ein regelmäßiges Ereignis, als weigere ihr Verstand sich, die veränderten Umstände, die neue Stellung ihres Bettes oberhalb des Erdbodens zu akzeptieren.)
«Letzten Endes kann jeder ohne Vater auskommen», sagte Doktor Aziz zu seiner Tochter, als er sich verabschiedete, und Ehrwürdige Mutter fügte hinzu: «Noch eine Waise in der Familie, wieheißtesnoch, aber mach dir nichts daraus, auch Mohammed war eine Waise, und von deinem Ahmed Sinai, wieheißtesnoch, kann man wenigstens sagen, dass er halb kaschmirisch ist.» Dann hatte Doktor Aziz mit eigenen Händen einen grünen Blechkoffer in das Eisenbahnabteil gereicht, in dem Ahmed Sinai seine Braut erwartete.
«Die Mitgift ist weder klein noch groß, wie’s heute so ist», sagte mein Großvater. «Wir sind keine Millionäre, verstehst du. Aber wir haben dir genug gegeben; Amina wird dir mehr geben.» In dem grünen Blechkoffer: silberne Samoware, Saris aus Brokat, Goldmünzen, die dankbare Patienten Doktor Aziz geschenkt hatten, ein Museum, dessen Schaustücke geheilte Krankheiten und gerettete Leben darstellten. Und jetzt hob Aadam Aziz seine Tochter (auf eigenen Armen) hoch und übergab sie nach der Mitgift der Obhut dieses Mannes, der ihr einen neuen Namen gegeben und sie somit zu einem neuen Geschöpf gemacht hatte und dadurch gewissermaßen ihr Vater wie auch ihr neuer Ehemann geworden war ... er ging (auf eigenen Füßen) den Bahnsteig entlang, als der Zug sich in Bewegung setzte. Wie ein Staffelläufer am Ende seiner Runde stand er da, bekränzt von Rauch, inmitten von Comicverkäufern und dem Durcheinander von Fächern aus Pfauenfedern und heißen Speisen und dem ganzen teilnahmslosen Tumult der hockenden Träger und Gipstiere auf Schubkarren, während der Zug an Geschwindigkeit gewann und Richtung Hauptstadt immer schneller in die nächste Runde des Rennens dampfte. In dem Abteil saß die neue Amina Sinai (in unbeschädigtem Zustand), die Füße auf dem grünen Blechkoffer, der einen Zentimeter zu hoch war, um unter den Sitz zu passen. Während ihre Sandalen auf das verschlossene Museum der Errungenschaften ihres Vaters drückten, raste sie davon in ihr neues Leben und ließ Aadam Aziz zurück, der sich fortan dem Versuch widmete, die Sachkenntnisse der Medizin des Westens und der Hakims miteinander zu verschmelzen, einem Versuch, der ihn allmählich zermürben und ihn davon überzeugen sollte, dass die Oberherrschaft des Aberglaubens, des Hokuspokus und der Magie in Indien nie gebrochen würde, denn die Hakims weigerten sich mitzumachen; und als er älter und die Welt weniger wirklich wurde, begann er an seinem eigenen Glauben zu zweifeln, und als die Zeit kam, in der er den Gott sah, an den er nie weder hatte glauben noch nicht glauben können, hatte er es wahrscheinlich schon erwartet.
Als der Zug den Bahnhof verließ, sprang Ahmed Sinai auf und verriegelte zu Aminas großer Verblüffung die Abteiltür und zog die Rollos herunter; aber dann polterte es draußen plötzlich, und Hände drehten an den Türknäufen, und Stimmen sagten: «Lassen Sie uns herein, Maharadsch! Maharadschin, sind Sie da? Bitten Sie Ihren Mann, aufzumachen.» Und immer, in all den Zügen in dieser Geschichte, gab es diese Stimmen und diese Fäuste, die hämmerten und bettelten, in dem Grenzzug nach Bombay und all den Expresszügen der Jahre; und immer war es Furcht erregend, bis schließlich ich derjenige draußen war, der sich festklammerte, als ging’s ums liebe Leben, und bettelte: «He, Maharadsch! Lassen Sie mich hinein,
Weitere Kostenlose Bücher