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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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oft und kräftig durch die Stangen spuckte und uns manchmal auf den Kopf traf... sie war einundzwanzig Jahre alt, ein plappernder Halbidiot, das Ergebnis jahrzehntelanger Inzucht; aber in meinem Kopf war sie schön, denn sie hatte nicht die Gaben verloren, mit denen jedes Kind geboren wird und die auszulöschen das Leben sich anschickt. Ich kann mich an nichts von dem erinnern, was Toxy sagte, als sie ihre Gedanken ausschickte, um sie mir einzuflüstern, wahrscheinlich war es auch nichts außer Gurgeln und Spucken; aber sie gab einer Tür in meinem Geist einen kleinen Stoß, und als sich ein Vorfall in einer Wäschetruhe ereignete, war es wahrscheinlich Toxy, die ihn ermöglicht hatte.
    Für den Augenblick ist das genug über die ersten Tage von Baby Saleem – meine pure Anwesenheit übt bereits eine Wirkung auf die
Geschichte aus; schon bewirkt Baby Saleem Veränderungen in den Menschen seiner Umgebung; und im Fall meines Vaters bin ich überzeugt, dass ich derjenige war, der ihn zu den Exzessen trieb, die, unausweichlich vielleicht, zu der erschreckenden Zeit der Einfrierung führten.
     
    Ahmed Sinai vergab seinem Sohn nie, dass er ihm den Zeh gebrochen hatte. Sogar nachdem die Schiene entfernt worden war, hinkte er noch ein wenig. Mein Vater beugte sich über mein Bettchen und sagte: «So, mein Sohn: Du fängst so an, wie du weitermachen willst. Schon hast du angefangen, auf deinen armen alten Vater einzudreschen! »Meiner Meinung nach war das nur zum Teil im Scherz gesagt. Denn mit meiner Geburt änderte sich für Ahmed Sinai alles. Seine Stellung im Haus wurde durch mein Kommen untergraben. Plötzlich hatte Aminas Emsigkeit sich anderen Zielen zugewandt; sie schmeichelte ihm nie mehr Geld ab, und die Serviette in seinem Schoß wurde von trauriger Sehnsucht nach den alten Zeiten durchschauert. Jetzt hieß es: «Dein Sohn braucht das und das», oder: «Janum, du musst mir Geld für das und das geben.» Schwache Leistung, dachte Ahmed Sinai. Mein Vater war ein Mann, der sich selbst sehr wichtig vorkam.
    Und deshalb war ich daran schuld, dass Ahmed Sinai in jenen Tagen nach meiner Geburt der Doppelphantasie verfiel, die sein Verderben sein sollte, nämlich den unwirklichen Welten der Dschinns und des Landes unter dem Meer.
    Erinnerung an meinen Vater an einem Abend in der kühlen Jahreszeit, als er auf meinem Bett saß (ich war sieben Jahre alt) und mir mit leicht belegter Stimme die Geschichte von dem Fischer erzählte, der in einer am Strand angeschwemmten Flasche den Dschinn fand ... «Glaube nie den Versprechungen eines Dschinns, mein Sohn! Wenn du sie aus der Flasche lässt, fressen sie dich auf?» Und ich, schüchtern – denn ich konnte Gefahr im Atem meines Vaters riechen: «Aber Abba, kann ein Dschinn wirklich in einer Flasche
leben?» Worauf mein Vater in einem plötzlichen Stimmungsumschwung in lautes Gelächter ausbrach, aus dem Zimmer ging und mit einer dunkelgrünen Flasche mit weißem Etikett zurückkam. «Hier», sagte er mit sonorer Stimme, «willst du den Dschinn hier drinnen sehen?» «Nein», quiekte ich ängstlich, aber «Ja!», brüllte meine Schwester, das Messingäffchen, aus dem Nachbarbett ... und nebeneinander kauernd sahen wir mit wohligem Entsetzen zu, wie er die Verschlusskappe abschraubte und den Flaschenhals dramatisch mit der Hand bedeckte; und nun, aus dem Nichts, tauchte in der anderen Hand ein Feuerzeug auf. «So mögen alle bösen Dschinns zugrunde gehen!», rief mein Vater, zog die Hand weg und hielt die Flamme an den Flaschenhals. Von Furcht ergriffen beobachteten das Äffchen und ich eine unheimliche Flamme, blau-grün-gelb, die sich in einem Kreis langsam die Innenwände der Flasche hinunterbewegte, bis sie am Boden ankam, kurz aufflackerte und erlosch. Am nächsten Tag rief ich stürmisches Gelächter hervor, als ich Sonny, Schlitzauge und Haaröl erzählte: «Mein Vater kämpft mit Dschinns; er besiegt sie, es stimmt wirklich!» ... Und es stimmte. Ahmed Sinai, der Schmeicheleien und der liebevollen Zuwendung beraubt, begann kurz nach meiner Geburt einen lebenslangen Kampf mit Geistern aus der Flasche. Doch in einem irrte ich mich: Er gewann ihn nicht.
    Schrankbars hatten seinen Appetit angeregt, aber erst meine Ankunft trieb ihn dahin ... In jenen Tagen war Bombay zum «trockenen Staat» erklärt worden. Die einzige Art, sich ein alkoholisches Getränk zu verschaffen, war, sich als Alkoholiker ausweisen zu lassen, und so entstand eine neue Sorte Ärzte,

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