Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
in den Fängen des Traums, begann meine Mutter Amina zu jener Zeit, den Nebel von Schuld aufzubauen, der in späteren Jahren ihren Kopf wie ein dunkler Kranz umgeben sollte.)
Ich habe Wee Willie Winkie nie in seiner Glanzzeit gehört. Nachdem er blinden Auges beraubt worden war, kehrte seine Sicht allmählich wieder, aber in seine Stimme schlich sich ein harter und bitterer Ton. Er sagte uns, es sei Asthma, und kam weiterhin einmal in der Woche zu Methwold’s Estate, um Lieder zu singen, die wie er Relikte der Methwold-Ära waren. «Good Night, Ladys», sang er und fügte, da er sich auf dem Laufenden hielt, seinem Repertoire «The Clouds Will Soon Roll By» hinzu und wenig später «How Much Is That Doggie In The Window?» Er setzte ein recht ansehnliches Kleinkind mit bedrohlich aneinander stoßenden Knien auf eine kleine Matte neben sich in die Manege und sang von Sehnsucht erfüllte Lieder, und niemand hatte das Herz, ihn wegzuschicken. Winkie und der Finger des Fischers waren zwei der wenigen Überlebenden aus den Tagen William Methwolds, denn nach dem Verschwinden des Engländers entledigten sich seine Nachfolger des im Stich gelassenen Inventars. Lila Sabarmati bewahrte ihr Pianola, Ahmed Sinai behielt seinen Whiskyschrank, der alte Ibrahim fand sich mit Deckenventilatoren ab, aber die Goldfische starben, manche vor Hunger, andere, weil sie so kolossal überfüttert waren, dass sie in kleinen Wolken aus Schuppen und unverdautem Fischfutter
explodierten; die Hunde verwilderten und hörten schließlich auf, auf dem Anwesen umherzustreifen, und die verblassenden Kleider in den alten Schränken wurden den Reinmachefrauen und anderen Bediensteten geschenkt, sodass die Erben William Methwolds noch jahrelang von Männern und Frauen umsorgt wurden, die die zunehmend zerlumpter aussehenden Hemden und Kattunkleider ihrer ehemaligen Herren trugen. Doch Winkie und das Bild an meiner Wand überlebten; Sänger und Fischer wurden Institutionen in unserem Leben – wie die Cocktailstunde, die sich schon zu fest eingebürgert hatte, als dass man sie hätte aufgeben können. «Jede kleine Träne und Sorge», sang Winkie, «bringt dich mir nur näher ...» Und seine Stimme wurde immer schlimmer, bis sie wie ein Sitar klang, dessen aus einem lackierten Kürbis gebauter Klangkörper von Mäusen angefressen worden war. «Es ist Asthma», behauptete er hartnäckig. Vor seinem Tod verlor er seine Stimme ganz; Ärzte revidierten seine Diagnose und stellten Kehlkopfkrebs fest, aber auch sie irrten sich, denn Winkie starb nicht an einer Krankheit, sondern an Bitterkeit über den Verlust einer Frau, von deren Untreue er nie etwas geahnt hatte. Sein Sohn, nach dem Gott der Schöpfung und der Vernichtung Shiva genannt, saß anfangs zu seinen Füßen und ertrug schweigend die Bürde, der Grund (so glaubte er jedenfalls) für den langsamen Verfall seines Vaters zu sein; und über die Jahre hinweg beobachteten wir, wie seine Augen allmählich von einem Zorn erfüllt wurden, für den es keine Worte gab; wir beobachteten, wie seine Fäuste sich um Kiesel schlossen und sie, anfangs kraftlos, aber je größer er wurde, desto gefährlicher, in die umgebende Leere warfen. Als Lila Sabarmatis älterer Sohn acht war, maßte er sich an, den jungen Shiva wegen seiner Grimmigkeit, seiner nicht gestärkten Shorts, seiner höckrigen Knie zu hänseln; worauf der Junge, den Marys Verbrechen zu Armut und Akkordeons verdammt hatte, einen spitzen flachen Stein schleuderte, dessen Rand scharf wie ein Rasiermesser war, und seinem Peiniger damit das rechte Auge ausschlug. Nach dem Unfall von Schlitzauge kam Wee Willie Winkie
allein zu Methwold’s Estate und überließ seinen Sohn den dunklen Labyrinthen, aus denen nur ein Krieg ihn retten sollte.
Warum Methwold’s Estate Wee Willie Winkie trotz des Verfalls seiner Stimme und der Gewalttätigkeit seines Sohnes weiterhin duldete: Er hatte ihnen einst einen wichtigen Hinweis auf ihr Leben gegeben. «Erst nach der ersten Geburt», hatte er gesagt, «werden Sie wirklich hier sein.»
Das unmittelbare Ergebnis von Winkies Hinweis war, dass ich in frühester Kindheit sehr gefragt war. Amina und Mary wetteiferten um meine Aufmerksamkeit, aber in allen Häusern auf dem Grundstück gab es Menschen, die mich kennen lernen wollten; und schließlich überwand Aminas Stolz auf meine Beliebtheit ihren Widerwillen dagegen, mich aus den Augen zu lassen, und sie willigte ein, mich sozusagen turnusmäßig an die
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