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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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verschiedenen Familien auf dem Hügel auszuleihen. In einem himmelblauen Kinderwagen, von Mary Pereira geschoben, begann ich einen triumphalen Zug durch die Paläste mit den roten Ziegeldächern, beehrte jeden abwechselnd mit meiner Gegenwart und ließ sie ihren Eigentümern wirklich erscheinen. Und so kann ich, indem ich nun durch die Augen von Baby Saleem zurückblicke, die meisten Geheimnisse meiner Nachbarschaft enthüllen, denn in meiner Gegenwart lebten die Erwachsenen ihr Leben ohne Furcht, beobachtet zu werden, und ohne zu wissen, dass Jahre später jemand durch Kinderaugen zurückblicken und beschließen würde, die Katzen aus den Säcken zu lassen.
    Hier ist also der alte Ibrahim und kommt fast um vor Sorge, weil drunten in Afrika die Regierungen seine Sisalplantagen verstaatlichen; hier ist sein ältester Sohn Ishaq und verzehrt sich vor Sorge um sein Hotelgeschäft, das in Schulden gerät, sodass er gezwungen ist, Geld von einheimischen Gangstern zu borgen; hier sind Ishaqs Augen und blicken begehrlich auf die Frau seines Bruders, obwohl es mir ein Rätsel ist, wieso Nussie-die-Ente bei irgendjemandem sexuelles Interesse wecken sollte; und hier ist Nussies Ehemann,
Ismail der Rechtsanwalt, dem die Zangengeburt seines Sohnes eine wichtige Lehre erteilt hat: «Nichts im Leben kommt richtig heraus», sagt er zu seiner Ente von einer Frau, «wenn man es nicht herauszwingt. »Diese Philosophie wendet er auf seine Rechtslaufbahn an und macht Karriere, indem er Richter besticht und Geschworene manipuliert; alle Kinder haben die Macht, ihre Eltern zu ändern, und Sonny verwandelte seinen Vater in einen höchst erfolgreichen Spitzbuben. Und dann ziehe ich hinüber zur Versailles Villa, wo Frau Dubash mit ihrem heiligen Schrein für den Gott Ganesch wohnt. Er klebt in der Ecke einer Wohnung von so übernatürlicher Unordnung, dass das Wort «dubash» bei uns zu Hause ein Tätigkeitswort mit der Bedeutung «Unordnung machen» wurde ... «Oh, Saleem, du hast dein Zimmer schon wieder gedubasht, du schwarzer Mann!», schrie Mary oft. Und nun beugt die Ursache der Unordnung sich über das Verdeck meines Kinderwagens, um mich unter dem Kinn zu kraulen: Adi Dubash, der Physiker, Genius der Atome und des Durcheinanders. Seine Frau, die schon Cyrus-den-Großen in sich trägt, bleibt im Hintergrund. Sie wächst mit ihrem Kind, während in ihren inneren Augenwinkeln etwas Fanatisches schimmert, das den rechten Augenblick abwartet; es wird so lange nicht hervorkommen, bis Herr Dubash, der sein Leben lang tagtäglich mit den gefährlichsten Substanzen der Welt arbeitete, an einer Orange erstickt ist, deren Kerne seine Frau zu entfernen vergessen hatte. In die Wohnung Dr. Narlikars, des kinderhassenden Gynäkologen, wurde ich nie eingeladen; doch in den Haushalten von Lila Sabarmati und Homi Catrack wurde ich zum Voyeur, ein winziger Teilhaber an Lilas tausendundeinen Treuebrüchen und schließlich Zeuge der Anfänge der Liaison zwischen der Frau des Marineoffiziers und dem Filmmagnaten und Rennpferdbesitzer, was mir, alles zu seiner Zeit, gute Dienste leisten sollte, als ich einen bestimmten Racheakt plante.
    Sogar ein Baby ist mit dem Problem konfrontiert, sich zu definieren, und ich muss sagen, dass meine frühe Beliebtheit auch ihre
problematischen Seiten hatte, denn ich wurde mit einer verwirrenden Vielfalt von Ansichten zu diesem Thema bombardiert, war der Gesegnete für einen Guru unter einem Wasserhahn, ein Voyeur für Lila Sabarmati, ein Rivale ihres Sonny, und zwar ein erfolgreicherer, in den Augen Nussies-der-Ente (obwohl ich zu ihren Gunsten sagen muss, dass sie sich ihre Ressentiments nie anmerken ließ und genauso wie jeder andere darum bat, mich ausleihen zu dürfen), und für meine zweiköpfige Mutter war ich alles mögliche Kindische  – sie nannten mich Joonoo-Moonoo und Putch-Putch und Kleine-Scheibe-vom-Mond. Aber was bleibt einem Baby schon übrig, als das alles zu schlucken und zu hoffen, sich später einen Reim darauf machen zu können? Geduldig und trockenen Auges saugte ich Nehrus Brief und Winkies Prophezeiung auf, aber, den tiefsten Eindruck hinterließ jener Tag, an dem Homi Catracks schwachsinnige Tochter ihre Gedanken über die Manege und in meinen Kleinkinderkopf schickte.
    Toxy Catrack mit dem übergroßen Kopf und dem sabbernden Mund; Toxy, die splitternackt an einem vergitterten Fenster im obersten Stockwerk stand und mit Bewegungen, die von vollkommenem Selbstekel zeugten, masturbierte, die

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